Robert Schumann op. 72
Robert Schumann: Vier Fugen für Klavier op. 72
Nr. 1 Nicht schnell
Nr. 2 Sehr lebhaft
Nr. 3 Nicht schnell und sehr ausdrucksvoll
Nr. 4 Im mässigen Tempo
Nachdem Schumann fünf Jahre lang keine Werke für das solistische Klavier komponiert, sondern sich anderen musikalischen Gattungen zugewandt hat, beginnt er im Januar 1845 gemeinsam mit seiner Frau Clara „Fleißige Fugenstudien“ und „Kleine contrapunctische Arbeiten“ vorzunehmen. Schumanns Begeisterung für diesen musikalischen Bereich mündet im Februar schließlich in der Komposition einer Fuge in d-moll. Die „Fugenpassion“ des ersten Halbjahres 1845 bringt außer den Vier Fugen für Klavier op. 72 noch einige weitere kontrapunktische Werke hervor (BACH-Fugen für Orgel op. 60, Studien und Skizzen für Pedal-Flügel op. 56 und op. 58).
Schon unter Schumanns frühesten, zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Kompositionsversuchen finden sich Fugen, die größtenteils nur skizziert und nicht weiter ausgearbeitet werden. 1845 hingegen findet sich jene denkwürdige Notiz in Schumanns Tagebuch, dass sich „eine ganz andere Art zu componiren zu entwickeln begonnen“ habe und die Werke nun nicht mehr am „subjektiven Clavier“ entstünden, sondern er von nun an „alles im Kopf zu erfinden und auszuarbeiten“ wolle. Ein gänzlich anderer Kompositionsprozess also, in den sich die Fugenarbeiten sinnvoll einfügen. Studien des Wohltemperierten Klaviers und der Kunst der Fuge seines erklärten Vorbilds Johann Sebastian Bach sind Schumanns „täglich Brod“. Entgegen aller Traditionen erblickt Schumann in Bachs Fugen „Charakterstücke höchster Art, zum Teil wahrhaft poetische Gebilde, deren jedes seinen eigenen Ausdruck, seine besonderen Lichter und Schatten verlangt.“ Insofern wird verständlich, warum sich Schumann auch in diesem Bereich der Klaviermusik selbst betätigen will, nachdem er mit Sonatenform, Charakterstück und Variation bereits einige Erfahrungen gemacht hat. Und es kommt auch nicht von ungefähr, dass er sein op. 72 im Autograph noch „Vier Characterfugen“ nennt.
In op. 72 legt Schumann seine ersten schulgerechten Fugen für Klavier vor. Das geistige Vorbild Bachs spricht beinahe aus jedem Takt, Schumann zieht u.a. Fugenthemen aus Bachs Wohltemperiertem Klavier heran, verändert diese geringfügig und versucht, eine eigene Art der Verarbeitung zu entwickeln. Die vier Fugen aus op. 72 sind in Gehalt, Tempo, Tonart und Form vollkommen unterschiedlich angelegt. Es besteht sogar ein starkes Gefälle zwischen ihnen. Während die erste geschickt konzipiert ist und meisterhaftes Können offenbart, verläuft die Schlussfuge hingegen eher starr und undifferenziert. Nicht in allen Passagen dieser Fugen vermag Schumann überzeugend seine kontrapunktische Fantasie zu beweisen. Ein verbindendes Element aller vier Fugen ist das kontrapunktische Verfahren der Engführung, das allerdings in jeder Fuge anders angewendet wird, mal strenger und mal freier erscheint, und zusätzlich mit unterschiedlichen Kompositionstechniken kombiniert wird. Schumann erzielt so den von ihm postulierten „Charakter“ des jeweiligen Stückes, den er Bachs Fugen ehedem in hohem Maße bescheinigte.
Die Vier Fugen op. 72 erschienen 1850 bei Whistling in Leipzig und wurden Carl Reinecke gewidmet. Der in Leipzig wirkende Pianist, Dirigent und Komponist war seit langen Jahren eng mit Schumann befreundet und an dessen kompositorischem Schaffen sehr interessiert.
(Irmgard Knechtges-Obrecht)
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