Robert Schumann: Waldszenen. Neun Stücke für Klavier op. 82
Nr. 1 Eintritt, Nr. 2 auf Jäger der Lauer, Nr. 3 Einsame Blumen, Nr. 4 Verrufene Stelle, Nr. 5 Freundliche Landschaft, Nr. 6 Herberge, Nr. 7 Vogel als Prophet, Nr. 8 Jagdlied, Nr. 9 Abschied.
Am Heiligen Abend des Jahres 1848 skizziert Schumann das erste Stück (Jäger auf der Lauer) seiner Klavier-Sammlung Waldszenen op. 82. Ende Dezember entstehen vier weitere Stücke sowie noch zwei am ersten Tag des neuen Jahres 1849. Schumann arbeitet sie während der nächsten Tage aus und schließt diesen Prozess am 3. Januar 1849 mit dem Stück Abschied vorläufig ab. Drei Tage später fügt er das nachträglich komponierte Vogel als Prophet hinzu, das im Druck letztlich an siebter Stelle platziert wird. Im folgenden Jahr 1849, von Schumann als sein „fruchtbarstes“ bezeichnet, entstehen zahlreiche Werke, von denen er mehrere während der nächsten zwei Jahre veröffentlichen möchte. Seine Waldscenen sind für 1850 vorgesehen.
Zwischenzeitlich übersiedelt die Familie nach Düsseldorf, wo Schumann im September 1850 die Stelle des Städtischen Musikdirektors antritt. So kann er erst an seinem neuen Wohnort die endgültige Fassung der Stücke erstellen, deren Revision er Ende September abschließt. Kurz darauf fragt er bei Verleger Senff, ob er das druckfertige Manuskript schicken solle, was dann am 8. Oktober geschieht. Schon am 30. November 1850 kündigt Senff die Waldszenen in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Signale für die musikalische Welt an.
Zyklustitel, Überschriften und Titelblattgestaltung der Erstausgabe greifen ein zentrales Thema der Romantik auf, die den Wald zum Symbol der absoluten Harmonie zwischen Mensch und Natur, zum Inbegriff der Natur schlechthin stilisierte. Dies verband sich mit durchaus zwiespältigen Empfindungen: Einerseits galt der Wald als Hort des Dämonischen, Ungewissen und Bedrohlichen, andererseits erschien er als ein Geborgenheit verheißender Zufluchtsort, als Stätte der Ruhe und Besinnung, bis hin zur religiösen Aura (Stück Nr. 7 Vogel als Prophet). Schumann widmet diesem populären Themenkreis mit den Waldszenen erstmals einen ganzen Zyklus, dem er einen zusätzlichen Akzent durch das Motiv der Jagd verleiht. In der Stichvorlage zu op. 82 notiert er sieben literarische Mottos zu den Stücken, von denen drei aus der Sammlung Die Waldlieder von Gustav Pfarrius stammen. Da dieser Gedichtband erst 1850 erscheint, kann Schumanns Plan der Mottos nicht von Anfang an bestanden haben. Er folgt mit dieser Idee einer zu seiner Zeit durchaus gängigen Praxis, die keiner programmmusikalischen Intention, sondern vielmehr einem synästhetischen Gedanken dienen möchte. Die Sorge, den Rezipienten tatsächlich im programmatischen Sinne zu beeinflussen, veranlasst Schumann vermutlich zur Streichung fast aller Mottos. Lediglich die Verse Friedrich Hebbels zum Stück Nr. 4 Verrufene Stelle stehen im Druck.
Den engen äußerlichen Rahmen seiner Waldszenen löst Schumann auch musikalisch ein. Nicht nur namentlich indizieren die beiden Eckstücke Eintritt und Abschied eine bogenförmige Konzeption, sie ähneln einander auch in Tempo, Ton- und Taktart sowie in ihrer abschließenden absteigenden Achtel-Wendung. Schumann achtet in op. 82 auf eine ausgewogene Balance zwischen Wald- und Jagdstücken. Auch die Tonartenfolge aller neun Stücke (B-Dur, d-moll, B-Dur, d-moll, B-Dur, Es-Dur, g-moll, Es-Dur, B-Dur) unterliegt einer Symmetrie. Im tonmalerischen Bereich verwendet Schumann traditionelle Topoi: Vom Gesang der Vögel über das Rauschen der Blätter und das Plätschern der Quellen bis hin zum Jagd- und Hörnerklang. In den Jagdstücken kommen charakteristische musikalische Momente zum Einsatz, wie die Tonart Es-Dur, der 6/8-Takt, prägnante und straffe Rhythmen, lebhafte Tempi sowie die berühmte Signalfolge der Hornquinten (Nr. 2 Jäger auf der Lauer und Nr. 8 Jagdlied). Neben der heiter-beschwingten Idylle und gelösten Atmosphäre von Nr. 1 Eintritt, Nr. 5 Freundliche Landschaft und Nr. 6 Herberge finden sich die melancholische Stimmung in Nr. 3 Einsame Blumen, der wehmütige Nachklang im Schluss-Stück Abschied und die bedrohlich düster wirkenden, dissonanten Akkorde in Nr. 4 Verrufene Stelle. Der geheimnisvoll-schwebende, harmonisch verunklarte Klang in Vogel als Prophet (Nr. 7) weist einen bereits durch den Titel implizierten ambivalenten Charakter auf: Einer stilisierten Nachahmung von Vogellauten steht die andächtig-feierliche Atmosphäre des choralartig konzipierten Mittelteils gegenüber.
Substanzielle Verflechtungen unterstützen die Geschlossenheit der Sammlung. Kleine motivische Muster tauchen in ihrer Grundgestalt, variiert oder als einfache Reminiszenz immer wieder auf. Die quasi als Hauptthema gedachte, zweitaktige Achtelwendung aus Nr. 3 Einsame Blumen wird in echoartiger Nachahmung wiederholt und mit sich selbst kontrapunktisch verflochten. Bereits nach wenigen Takten des folgenden Stücks Verrufene Stelle erscheint dieses Motiv wieder. Hier steht auch das einzige der ursprünglich geplanten Mottos, wodurch das musikalische Zitat des 'Blumenmotivs' eine zusätzliche poetische Motivation erhält. Als einziges ist dieses Motiv in allen neun Stücken präsent, erhält in Nr. 6 Herberge mehrere Takte lang sogar thematische Bedeutung. Die für ein Charakterstück als typisch geltende dreiteilige Liedform findet in op. 82 nur in zwei Fällen Verwendung (Nr. 7 und Nr. 8). Im übrigen ergibt sich die formale Struktur viel eher aus der speziellen Motivtechnik.
Die Waldszenen entspringen Schumanns Streben nach Popularität zu einer Zeit, als eine Hinwendung zur tendenziell biedermeierlichen „Hausmusik“ in seinem Schaffen auffällt. Ähnlich wie seine Kompositionen „für die Jugend“ eignen sich auch diese Stücke durch ihre volkstümliche Einfachheit, ihren eingängigen Charakter und die durchaus zu bewältigenden technischen Spielanforderungen für den hausmusikalischen Gebrauch. Von jeher erfreuten sich einige der Stücke größerer Beliebtheit, weshalb sie seit 1867 auch einzeln verlegt wurden, obwohl Schumanns Intention der zyklischen Geschlossenheit dabei verloren geht. Clara Schumann spielte die Waldszenen als Zyklus erstmals öffentlich 1869 in London.
(Irmgard Knechtges-Obrecht)
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