Champagnernächte, wüstes Leben
DIE ZEIT
Nr.46 vom 2006-11-09, S. 60
Feuilleton
Hilberg, Frank
KLASSIK: Pierre-Laurent Aimard spielt Robert Schumann atemberaubend ungestüm
Das Jahr 1834 war für Robert Schumann »das bedeutendste meines Lebens«. Arbeit und Leben schlingen sich ineinander, dem Rausch »Champagnernächte, wüstes Leben« folgt der Kater, »Qualen der fürchterlichsten Melancholie«. Er gründet die Neue Zeitschrift für Musik und schreibt seine ersten größeren Kompositionen, und sein Herz flattert durch rauschende Ballnächte das Leben ist ein Carnaval op.9, ein Ballhaus-Abenteuer in 21 Szenen. Mit dem Klavier, der Schreibmaschine seiner Seele, schreibt er im 3/4-Takt den Maskenroman, dessen Held er selbst ist, Florestan und Eusebius in einem, und den er mit seinen Freunden, Verlobten, Liebschaften und Figuren wie Pierrot, Arlequin oder Colombine durchtanzt. Dichtung und Wahrheit in rascher Nummern-Folge, hurtige Stücke mit burlesken Auftakten und aufgekratzten Modulationen, von Pierre-Laurent Aimard in atemberaubendem Ungestüm gespielt. Er entfacht die Walzerseligkeit als Brillantfeuerwerk.
Schumanns anhaltender Überschwang kann durchaus auf den Nerv gehen, es ist eben ein Unterschied, ob man selber tanzt oder nur zuhört. Ein Gegengift sind seine Symphonischen Etüden op. 13, ein Meisterwerk der romantischen Variationskunst. »Die Melodie des Themas stammt von einem Amateur«, von Hauptmann von Fricken, dem Vater seiner Verlobten. Er hatte seine Variationen Schumann zur Beurteilung vorgelegt und musste sich darüber belehren lassen, dass zu viel Charakterähnlichkeit darin herrsche. Das Thema soll zwar immer klar sein, »aber das Glas, mit dem man es ansieht, ein verschieden gefärbtes, wodurch die Gegend jetzt rosaroth wie im Abendglanz, jetzt golden wie bei einem Sonnenmorgen erscheint«. In den 17 Variationen führt Schumann das cis-Moll-Thema durch Himmel und Hölle, es schwebt über Akkordnebeln und fliegt in Sprüngen dem Finale entgegen in seinen Charakterlaunen ist es ebenso wechselhaft wie sein Autor.
Unbegreiflich, wie Aimard diese haarigen Sachen live so makellos aus den Händen fließen lässt vermutlich, weil er selbst hingerissen ist, so sehr, dass er die prickelnde dritte Etüde nicht nur einmal, sondern gleich zweimal wiederholt. So steckt der Komponist alle an. Und das Leben ist ein Maskenball.
Robert Schumann: Carnaval op. 9, Symphonische Etüden op. 13
Pierre-Laurent Aimard (Klavier), Live aus dem Wiener Konzerthaus 2006, Warner Classics 2564-63426
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