Ragna Schirmer und ihre neueste Schumann-Aufnahme
eine Rezension von Ellen Kohlhaas:
Robert Schumann, Etüden in Form freier Variationen über ein Thema von Beethoven WoO 31; Sinfonische Etüden in Form von Variationen op. 13. Ragna Schirmer. Berlin Classics 0017862 (edel classics)
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.07.2006, Nr. 156, S. 54
Schallplatten und Phono
Es bleibt ein didaktischer Erdenrest
Die Neunte läßt grüßen in schönster Vorläufigkeit: Was Ragna Schirmer in Robert Schumanns Werkstatt fand
Zwar sind die "Sinfonischen Etüden" op. 13 von Robert Schumann ein beliebtes Paradestück. Doch die meisten Pianisten wählen unter den sechs Versionen, die zwischen 1834 und 1852 unter verschiedenen Titeln entstanden sind, eine der beiden Druckfassungen. Manchmal fügen sie auch ergänzend die fünf Stücke hinzu, die Clara Schumann und Johannes Brahms erst im Jahr 1873 herausgaben. Ragna Schirmer dagegen hat sich aus allen sechs Versionen einen eigenen Zyklus erstellt, in dem sie die einzelnen Stücke formal und fürs Ohr plausibel anordnet, die fünf nachgelassenen Variationen aber als Ruhepunkte einfügt.
An viertletzter Stelle spielte Schirmer eine bislang unveröffentlichte Variation aus dem Nachlaß ein: eine reizvolle Moll-Barkarole. Erst recht Neuland erschließt sie dann mit den "Etüden in Form freier Variationen über ein Thema mit Beethoven" WoO 31, die Schumann zwischen 1831 und 1835 komponiert hat. Auch diese fünfzehn Variationen aus drei Skizzenbüchern, die erst vor dreißig Jahren im Henle-Verlag erschienen sind, werden in einer selbstgewählten Reihenfolge gespielt, wobei Schirmer zwei Fragmente sinngemäß ergänzte.
Anders als die Sinfonischen Etüden über ein Thema des Freiherrn Ignaz Ferdinand von Fricken, mit dessen Tochter Ernestine Schumann vorübergehend verlobt war, haftet diesen Variationen etwas Vorläufiges an. Variiert wird das Thema des Allegretto aus Beethovens Siebter, daneben gibt es Anspielungen auf das Andante molto mosso der Sechsten (Take 13) und den Anfang der Neunten (Take 15). Öfter abbrechend als in sich gerundet, klingen die Variationen streckenweise wie improvisiertes Spielmaterial für gewichtigere Vorhaben. In der Tat hat Schumann Teile dieser Beethoven-Variationen später weiterverwertet; etwa die Cantando-Etüde mit ihrer Überlagerung von Legato und Non-Legato zum Charakterstück "Leides Ahnung" in der Sammlung "Albumblätter" op. 124 ausgearbeitet. Und thematische Anspielungen bezeugen, daß zumindest einige Stücke für die Sinfonischen Etüden Modell standen. So gewährt die Gegenüberstellung der beiden Reihen auf diesem Album einen höchst aufschlußreichen Einblick in Schumanns Werkstatt.
Genau besehen verrät der endgültige Titel des Opus 13 einen dreifachen Anspruch: die Verbindung von orchestraler Satzdichte und Farbigkeit, technischem Pensum und, scheinbar im Widerspruch dazu, die Kunst des freien Phantasierens und Variierens. Ragna Schirmer bringt dafür treffliche Voraussetzungen mit: die vollgriffige Kraft, die schon im Thema erforderlich ist; eine Bravour, die nur gelegentlich an Obergrenzen stößt und dann keine Reserve mehr übrigläßt; die Kunst des poetischen Schweifens als Erbteil von Schumanns Teil-Ich Eusebius.
Doch kommt es vor, daß die Pianistin allzu haushälterisch mit ihren Gaben umgeht. Das Andante-Thema verwaltet sie so detailklar und bedachtsam, daß ihm - wie schon dem Einstieg in den Beethoven-Zyklus - ein didaktischer Erdenrest anhaftet. In beiden Zyklen arbeitet sie sich allmählich frei, wobei die Arbeit spürbar bleibt. Und der Florestansche Überschwang, stets gepaart mit verrücktem Übermut, hebt bei aller bewundernswerten Fingerfertigkeit nur ein Stück weit vom Boden gewissenhafter Textbefragung ab, statt über Grenzen hinauszuweisen in eine "Ungebundenheit", die nach Schumanns Tagebuchmeinung "genialer u. geistiger" sei als "das Gebundene" - aber rational auch schwerer greifbar, entsprechend schwieriger im Werk auszumachen, darzustellen.
Ragna Schirmer unterbreitet mit dieser neuen Einspielung einen Schumann für möglichst junge Leute von heute - sachlich klar in der Aussage, sorgfältig im Detail, sportlich in der Bewältigung. Und manchmal spricht - scheu zwischen den Zeilen - auch der Dichter.
ELLEN KOHLHAAS
Robert Schumann, Etüden in Form freier Variationen über ein Thema von Beethoven WoO 31; Sinfonische Etüden in Form von Variationen op. 13. Ragna Schirmer. Berlin Classics 0017862 (edel classics)
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