Robert Schumann.

Complete Works for Violin and Orchestra: Concerto in A minor for Violin and Orchestra after the Concerto A minor for Cello and Orchestra, Op. 129, Violin Version by the Composer. Fantasy C major for Violin and Orchestra, op. 131. Concerto in D minor for Violin and Orchestra Ulf Wallin, Violin · Robert-Schumann-Philharmonie · Frank Beermann, Conductor BIS Records AB, Akersberga, Sweden, 2011
BIS-SACD-1775

Mendelssohn & Schumann
Violin Concertos [+ Schumann: Fantasy for Violin and Orchestra in C major, Op. 131] Christian Tetzlaff, Violin · Frankfurt Radio Symphony Orchestra · Paavo Järvi Ondine Oy. Helsinki, 2010
LC 3572. ODE 1195-2

Die Entstehungs-, Unterdrückungs- und Wiederentdeckungsgeschichte von Robert Schumanns 1853 für Joseph Joachim kom- poniertem, doch erst 1937 uraufgeführtem Violinkonzert muss Schumann-Freunden nicht noch einmal erzählt werden. Mehr und mehr ist Schumanns letztes Werk mit Orchester aus dem Schatten der tragischen Geisteskrankheit des Komponisten herausgetreten und hat sich in den vergangenen Jahrzehnten im Konzertbetrieb und auf dem CD-Markt erstaunlich etabliert. Seit 2009 liegt endlich auch eine verlässliche Notenausgabe vor (Breitkopf & Härtel, hrsg. von Christian Rudolf Riedel), die Georg Schönemanns problematische Erstausgabe von 1937 überflüssig macht. Doch Wiedergaben des Werkes haben ihre Tücken, wobei man mit einigem Recht behaupten kann, dass sie seltener an Solisten als an Orchestern und Dirigenten scheitern – also weniger an violintechnischen Mängeln als an unangemessenen, in den Ecksätzen überhetzten, im Mittelsatz zerdehnten Tempi, an rhythmischen Ungenauigkeiten und klanglicher Sorglosigkeit. Angemessene Wiedergaben erkennt man vor allem an drei Aufführungsqualitäten:

1. Musiker müssen deutlich machen, dass im Verlauf der drei Sätze eine bemerkenswerte konzertante Entwicklung stattfindet. Denn das Werk beginnt mit einem für innovative Solokonzerte seiner Zeit ungewöhnlichen blockhaften Gegenüber von Sologeige und Orchester, die im 1. Satz nur während der Durchführung und in der Coda vorübergehend zu zarten Verständigungsversuchen finden. Erst im polonaisenartig schreitenden, deklamierenden und singenden Finale kommt es zum konzertanten Dialog und zum konzertant-symphonischen Miteinander. Die entscheidende Brücke dieser Entwicklung ist der Mittelsatz, Schumanns intensivster, anrührendster langsamer Konzertsatz, bei dem die Violine eine fast unendliche Melodie anstimmt und zugleich mit dem Orchester innig verwoben ist.

2. Ebenso wichtig ist, wie der Schumann-Forscher Reinhard Kapp zwingend gezeigt hat, die Tempofrage. Wer die Ecksätze merklich zu schnell nimmt, wie man es seit 1937 allzu oft erleben musste, der nimmt dem Werk den Raum zur Entfaltung, ja die Luft zum Atmen, die Fähigkeit zu sprechen, überspielt rhetorische Akzente, macht die Musik krank. Das gilt gerade für die charakteristischen Solofigurationen, die nicht so sehr treibende Bewegungselemente sind, sondern melodische-motivische und gestische Qualitäten haben.

3. Ein guter Gradmesser für die Interpretationsqualität ist in vielen Füllen der Beginn des langsamen Satzes: Wenn sich Dirigent und Orchester nicht die Mühe gemacht haben, das synkopisch vorgezogene Eröffnungsthema der Celli gegenüber dem Begleitsatz wirklich lyrisch „swingen“ zu lassen, wie wir es schon vom frühen Schumann kennen, etwa in „Fast zu ernst“ aus den Kinderszenen, ist auch sonst für das Werk wenig Gutes zu erwarten. Ja, manche Dirigenten scheinen den Versuch  aufgegeben zu haben, die Synkopik angemessen herauszuarbeiten und lassen das Thema mehr oder weniger auf den Schlag spielen (besonders offenkundig Lorin Maazel in einer alten Rundfunkaufnahme mit Ida Haendel).

Die Aufführungsgeschichte des Violinkonzertes beginnt mit Georg Kulenkampff, der im Dezember 1937 – durchaus mit geigerischem Charme – kurz nach der von Karl Böhm geleiteten Uraufführung eine violintechnisch von Paul Hindemith stark bearbeitete (sprich: verschlimmbesserte), im 1. Satz etwas gekürzte Fassung aufnahm, die Hans Schmidt-Isserstedt dirigierte. Solist der amerikanischen Erstaufführung war Yehudi Menuhin, der das Konzert im Februar 1938 mit John Barbiroli auch einspielte – in unbearbeiteter Gestalt, doch in den Ecksätzen mit stark aufgeheizten Turbotempi. Nach 1945 folgten der solistisch liebevollen, orchestral leider nicht erstklassigen Aufnahme mit Peter Rybar und Victor Desarzens, die in Deutschland ziemlich unbekannt blieb, zunächst eher Rundfunkals Schallplattenaufnahmen. Wenn in beiden Bereichen auch Mittelmaß vorherrschte, gab es unter den kommerziellen Einspielungen doch gele- gentlich Interpretationen, die zu ihrer Zeit neue Maßstäbe im Umgang mit dem Werk setzten, ohne dass sie jeweils der Schumann-Weisheit letzter Schluss gewesen wären. Genannt seien die Geiger Henryk Szeryng (Dirigent: Antal Dorati), Ulf Hoelscher (Marek Janowski) und Jean-Jaques Kantorow (Emmanuel Krivine). Gidon Kremers und Nikolaus Harnoncourts Einspielung von 1994 orientierte sich dann als erste kommerzielle Aufnahme uüberhaupt streng am Puls von Schumanns Metronomangaben, wenn es auch an geigerischen Manierismen nicht mangelt und die Finalsatz-Polonaise geradezu erstarrt. Einen vom Tempo her ähnlichen Ansatz versuchten fast zeitgleich auch Hansheinz Schneeberger und Florian Merz in ihrer geigerisch spröderen, orchestral bestenfalls zweitklassigen Aufnahme.

Ein neuer Markstein war 2004 die Einspielung von Renaud Capucon und Daniel Harding – nicht so sehr des Solisten wegen, sondern weil Harding zusammen mit dem Mahler Chamber Orchestra in Sachen Klangschichtung, Rhyth- muspräzision, Formverstand und Ausdrucksprägnanz trotz nicht immer ganz authentischer Tempi all das verwirklichte, was man in den Noten schon immer sah, von den meisten Dirigenten aber nicht zu hören bekam.

Dies ist, knapp und sicherlich nur bedingt „objektiv“ formuliert, der interpretationsgeschichtliche Hintergrund zweier Neueinspielungen von Violinkonzert und Phantasie, die von sehr unterschiedlicher Art und Qualität sind.

Der schwedische Geiger Ulf Wallin hat 2011 eine Gesamteinspielung von Schumanns Werken für Violine und Orchester vorgelegt (Violinkonzert, Phantasie op. 131, Geigenfassung des Cellokonzertes), wie es im Jahr zuvor auch schon Lena Neudauer mit Pablo Gonzáles in einer lyrisch-einfühlsamen, nach meinem Empfinden jedoch etwas spannungsarmen Aufnahme tat. Die Neuaufnahme mit Wallin, der hochmotiviert und weithin bemerkenswert hochklassig spielenden Robert-Schumann-Philharmonie (Chemnitz) und ihrem GMD Frank Beermann kann in vieler Hinsicht als neuer Orientierungspunkt in der Interpretationsgeschichte des Violinkonzertes gelten: Sie zeigt einen geradezu selbstverständlichen Umgang mit dieser Musik, der einen nur den Kopf schütteln lässt über bisherige Aufführungsprobleme. Wallins erdig-kerniger Violinton ist sehr geeignet für das expressive Potential von Schumanns rezitativischen Figurationen im Kopfsatz des Violinkonzertes. Dank seines agogisch freien, doch nie manierierten Spiels, prägnanter Akzentuierungen und der von Beermann maßgeblich mitverantworteten Balance zwischen Soloinstrument und Orchester gewinnt diese Musik eine ungemein sprechende Qualität. Auch Schumanns Kantilenen profitieren von Wallins leicht angerauter geigerischer Sanglichkeit, die alles Süßliche vermeidet und im Zweifelsfall eher auf Ausdruck als auf Schlackenlosigkeit setzt. All das gilt nicht minder für die so oft als spröde, blass und einfallslos gescholtene Phantasie. Im lebhaften Hauptteil orientieren sich Wallin und Beermann anfangs eng an Schumanns Metronomangabe, ehe sie das Grundtempo später phantasie-gemäß variieren, wobei sie oft sogar noch unter Schumanns Vorgabe bleiben. Gerade dadurch gewinnt das Stück enorme Lebhaftigkeit, wirkt geistreich, entwickelt seinen – von Elegik umflorten – Humor. Plötzlich versteht man, warum Schumann selbst dem Werk einen „heitren Charakter“ attestierte. Und man lernt, warum seine Satzbezeichnung „Lebhaft“ etwas anderes meint als rasant schnelles Spiel.

In Wallins Wiedergabe zeigt die Phantasie auch die violintechnischen Qualitäten, die ihr von Rezensenten der ersten Leipziger Aufführung durch Joseph Joachim ausdrücklich zuerkannt (und von späteren Rezensenten und Geigern ebenso ausdrücklich abgesprochen) wurden. Natürlich bringt Wallin zusammen mit Beermann und dem fabelhaft reagierenden Orchester auch die konzertanten Gewichtsverschiebungen im Verlauf des Violinkonzertes packend zum Ausdruck, wobei er eher vereinzelte Rauigkeit als nivellierende Glätte in Kauf nimmt. Gegenüber diesen Vorzügen wiegen kleinere Einwände wenig: Dem Orchester wünschte man gelegentlich mehr Durchsetzungskraft bei den Violinen. Beermann hätte im Violinkonzert den monumentalen Tuttiblöcken des 1. Satzes mehr Zeit gönnen können. Und der langsame Satz hat zwar Ausdruckskraft, Synkopen-Swing und „sprechende“ Kantilene, doch würde man in dem von Schumann geforderten fließenderen Tempo die Utopie des „Verweile doch, du bist so schön“ noch stärker spüren. Insgesamt aber ist dies mit Abstand die geigerisch und orchestral bisher überzeugendste, fesselndste Gesamtaufnahme der drei konzertanten Violinwerke: Sie überzeugt in der expressiv-freien Interpretation des vom Komponisten für Geige transkribierten Cellokonzertes, bietet die mit Abstand gelungenste Einspielung der Phantasie und steht beim Violinkonzert im Hinblick auf Ausdruckskraft, Formbewusstsein und Spielintelligenz zumindest gleichberechtigt neben, teilweise auch vor den Aufnahmen von Capucon/Harding und Kremer/Harnoncourt.

Demgegenüber schwimmt die von Paavo Järvi geleitete Einspielung Christian Tetzlaffs weithin im Aufführungs-Mainstream früherer Jahrzehnte (was ich bei diesem sonst so hochgeschützten Geiger mit Bedauern schreibe). In der Phantasie op. 131 hält sich Tetzlaff zwar strenger an Schumanns Tempovorgaben als Wallin, hetzt dabei aber so atemlos und un-phantasiemäßig durch das Werk, als süße ihm die Pistole im Nacken. Er lässt der Musik keine Zeit zum Atemholen, zum Artikulieren, was sich gelegentlich auch auf die geigerische Qualität auswirkt. Der paradoxe Effekt ist, dass Wallins gut 3 Minuten (also rund ein Viertel) längere Aufnahme der Phantasie letztlich lebhafter und musikalisch kurzweiliger wirkt als Tetzlaffs schlanktönige Hetzpartie. Im Violinkonzert nimmt Tetzlaff einerseits durch unsentimentales Spiel für sich ein – gerade im langsamen Satz. Doch selbst hier bleibt er interpretatorisch vergleichsweise farblos, zumal Järvi und das Frankfurt Radio Symphony Orchestra (hr-Sinfonieorchester) in puncto Klang- und Artikulationsprägnanz wie auch aufnahmetechnisch hörbar hinter Beermann mit der Robert-Schumann-Philharmonie oder Harding mit dem Mahler Chamber Orchestra zurückbleiben.

So ist das Beste an Tetzlaffs CD die Aufnahme des Mendelssohn-Konzertes, während Wallin und Beermann mit ihren Referenzaufnahmen zeigen, wohin der weitere aufführungspraktische Weg von Schumanns konzertanten Violinwerken führen könnte.


(Michael Struck)    

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