Gruselgeschichten - azn.
Neue Zürcher Zeitung 26.02.2008, Nr. 47, S. 53
Zürcher Kultur
A. Zimmerlin, azn
Das 19. Jahrhundert hat eine musikalische Gattung hervorgebracht, die seinerzeit enorm populär war: das Melodram, die Deklamation schauerlicher Balladen und Gedichte mit Begleitung durch das Pianoforte. Heute werden Melodramen selten mehr aufgeführt, ihre Wirkung ist oft grotesk, sogar bei Schöpfungen so gestandener Komponisten wie Robert Schumann, Franz Liszt oder Richard Strauss. Da muss man sich schon etwas einfallen lassen - wie die Truppe Mélodramas aus Winterthurs Partnerstadt La Chaux-de-Fonds, die von Musica aperta in das Theater am Gleis eingeladen worden war.
Die Pianistin Mireille Lucinde Bellenot, die Schauspielerin Françoise Yvette Boillat und der Schauspieler Stefan Heiner Kraft haben sich mehrfach mit experimentellem Musiktheater auseinandergesetzt, und genau dort setzten sie auch mit ihrem Melodramen-Abend an. So meinte man zu Beginn im falschen Stück zu sitzen, denn Bellenot servierte einen abstrusen Vortrag über die «musique spectrale», garniert mit Clustern und quietschenden Hühnern. Prompt griffen Boillat und Kraft aus dem Publikum ein und überzeugten die Pianistin davon, sich dem «Schloss am Meer» von Richard Strauss nach Ludwig Uhlands Gedicht zuzuwenden.
Nach dem doch etwas klobigen Einstieg entfaltete sich indes ein Abend von eigenem Charme, denn die drei bewiesen - unterstützt von einer subtilen Lichtregie - erstaunliche Wandlungsfähigkeit und starke Präsenz. So nahm einen die Poesie von Strauss' «Schloss» urplötzlich gefangen, Robert Schumanns «Die Flüchtlinge» nach der Dichtung von Mary Shelly entfaltete ein gewaltiges Spektakel, während in Christian Friedrich Hebbels «Schöner Hedwig» zur Geltung kam, welch qualitätvolle Musik Schumann dazu komponiert hatte. Man merkte kaum, dass sich der Abend zweisprachig abspielte, nämlich deutsch und französisch. Franz Liszt durfte selbstverständlich nicht fehlen, vertonte er doch mit Gottfried August Bürgers «Lenore» die wohl erste deutsche Kunstballade, und sein «Trauriger Mönch» (nach Nicolaus Lenau) hat musikalisch geradezu avantgardistische Seiten. Selbst der Philosoph Friedrich Nietzsche hat ein Melodram geschaffen, nämlich Eichendorffs «Zerbrochenes Ringlein». Eingebettet in einen phantasievoll und dramaturgisch präzise gestalteten Abend ist selbst dieses etwas linkische Stück zu ertragen.
Winterthur, Theater am Gleis, 24. Februar.