Christian Philipsen, Monika Lustig, Ute Ormonsky (Hgg.)

Zur Entwicklung des Klavierspiels von Carl Philipp Emanuel Bach bis Clara Schumann [Mit Beiträgen u.a. von Bernhard Klapprott, Eszter Fontana und Thomas Synofzik)

(= Michaelsteiner Konferenzberichte 82)

Augsburg: Wißner-Verlag 2017; 380 S.; ISBN 9783957861191
Rezension von Alfred Gross, in: Die Tonkunst, Nr. 1, Jg. 13 (2019), Seite 124 bis 125 unter der Rubrik „Neuerscheinungen“

Dass im Jahre 2018 erstmals ein Warschauer Chopin-Wettbewerb auf historischen Instrumenten stattfand, macht deutlich, wie sehr das Bewusstsein für die Zusammenhänge zwischen kompositorischen Strukturen und den Spielweisen auf adäquaten Instrumenten gerade beim Klavier gewachsen ist. Bereits 2013 hatte die Stiftung Kloster Michaelstein ein Symposium mit dem Thema Zur Entwicklung des Klavierspiels von Carl Philipp Emanuel Bach bis Franz Liszt einberufen mit dem Ziel, den aktuellen Forschungsstand zu erkunden und zu bündeln. Gleichzeitig fand das 32. Musikinstrumentenbau-Symposium statt. Mit einer gewissen Verspätung konnte im Jahr 2017 Band 82 der Michaelsteiner Konferenzberichte vorgelegt werden, in dem in 15 Beiträgen die vielfältige Welt des Klavierspiels im Zeitraum von fast 150 Jahren (1753 erschien C. P. E. Bachs Versuch, 1896 starb Clara Schumann) befragt und beleuchtet wird. Ausgewogen haben konzertierende Clavieristen, um diesen Sammelbegriff für die historisch orientierten Tastenspieler zu verwenden, Instrumentenbauer, Musikwissenschaftler, Restauratoren und Sammler unterschiedlichste Aspekte zum Generalthema in die Debatte gebracht.
Im umfangreichen ersten Beitrag des Bandes wirft Bernhard Klapprott mit einer Fülle von Belegen ein Schlaglicht auf die herausragende Bedeutung, die dem Clavichord in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zukam. Dem Leser wird hier ein wahres Kompendium der Anschlagskultur, der Klangästhetik und der allgemeinen Bedeutung des später in die Vergessenheit geratenen zentralen Clavierinstrumentes geboren. An der Clavierschule von István Gatti zeigt Eszter Fontana, dass noch bis 1830 das Clavichord in Ungarn besonders im Lehrbetrieb tonangebend war. Am Ende des Zeitstrahls steht Thomas Synofzik mit seinem Beitrag zu Clara Schumann und deren Klavierbauern. Durch die kundige Auswertung verschiedenster Quellentypen gelingt dem Autor ein lebendiges Abbild der enormen Veränderungen, welche der Klavierbau während Clara Schumanns über 60-jähriger Karriere vollzogen hat. Zwischen dem erhaltenen André Stein-Flügel von 1828 und den Steinweg-Instrumenten der 1890er-Jahre liegen Welten. Den Einflüssen von Bachs 1753 in Berlin erschienener Klavierschule Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen auf Johann Nepomuk Hummel einerseits und auf Carl Czerny andererseits widmen sich die Beiträge von Arthur Schoonderwoerd und Harald Ossberger. Fokussiert ersterer sich vornehmlich auf Fingersatzfragen, hat letzterer allgemeine Interpretationsfragen in den Mittelpunkt gestellt. Zu Themen wie Agogik, Akzentuierung und Artikulation zitiert der Autor ausführlich aus Czernys Pianoforte-Schule op. 500 und erlaubt dem Leser, sich aus der Zitatenflut ein eigenes Urteil zu bilden.
Mit Kerstin Schwarz, Christopher Clark und Paul McNulty sind drei aktive Instrumentenbauer mit von der Partie. Mit einer Fülle instruktiver Abbildungen werden von Kerstin Schwarz die Unterschiede der Instrumente Cristoforis und Silbermanns herausgearbeitet, in beiden Fällen gegründet auf den Untersuchungen an den Originalen und Erfahrungen beim Nachbau. Erstaunlich, wie bei identischer Mechanik Erweiterungen des Tasten- bzw. Tonumfangs und damit Modifikationen des Gehäuses drastische Veränderungen des Klanges und insbesondere des Spielgefühls mit sich bringen. Seine Gedanken zum Kopieren eines Pleyel-Flügels von 1830 und eines (von Liszt gespielten) Boisselot von 1846 steuert Paul McNulty bei. Er macht deutlich, wie bauliche Details etwa einen orchestralen Klavierstil erst ermöglicht haben. Dem Klavier der französischen Schule, insbesondere den Instrumenten der Erard-Dynastie, hat Christopher Clark in zwei Beiträgen seine Aufmerksamkeit gewidmet. Er beschreibt den großen Einfluss des Londoner Klavierbaus auf Sébastien Erard und stellt bezüglich der Mutationen den Bezug zur Straßburger und Süddeutschen Schule her. Der zweite Beitrag unter dem Titel „Erards ‚double pilote‘ action and ist significance“ erklärt die technische Neuerung aus den Forderungen des Tremolando-Stils von Pianisten wie Steibelt und Adam. Umfangreich setzt sich David Rowland mit der Entwicklung des Klavierspiels in England zwischen ca. 1790 und 1810 auseinander. Er zeigt, wie eng die Verbindung des Dreigestirns Clementi, Cramer und Dussek mit dem Londoner Klavierbau war und wie sehr sich die Spielweise, insbesondere der Pedalgebrauch, fundamental von derjenigen der Wiener Schule unterschieden hat. Klavierstil und Klavierbau standen in einer geradezu symbiotischen Beziehung, die so weit ging, dass Clementi eigene Instrumente vermarktete und Dussek als Geschäftspartner gewinnen konnte. John Field sollte später Clementis Instrumente gar in Russland auf den Markt bringen.
Regional eingegrenzt, dafür aber nicht minder interessant sind Michael Günthers Erläuterungen zum Pantalon. Als Clavierist und leidenschaftlicher Sammler in Personalunion hat er täglichen Umgang mit einer Reihe solcher Instrumente und ist sowohl mit der technischen als auch mit der musikalischen Seite mehr als vertraut. Pantalons sind (grob gesagt) Hackbretter, die mit einer Tastatur versehen wurden. Abgeleitet wurde der Name von dem des Hackbrettvirtuosen Pantaleon Hebenstreit. Die Instrumente wurden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vornehmlich im süddeutschen Raum gebaut. Günther legt eine stringente Systematisierung unterschiedlicher Entwicklungsstufen vor und stellt eine Verbindung des vornehmlich ungedämpften Klanges zum musikalischen Stilwandel nach 1750 her. Dankenswerterweise ist der Beitrag mit erhellenden Abbildungen von Instrumenten aus der eigenen Sammlung illustriert und macht Werbung für ein vergessenes bzw. wieder zu entdeckendes Clavierinstrument.
Von der Verbindung Instrument – Komposition lösen sich die Beiträge dreier Autoren. Pablo Gómez Ábalos entwirft anhand der Probestücke und der Studien op. 3 ein Psychogramm von deren Autoren C. P. E. Bach und Robert Schumann, Hartmut Krones macht Klavierbearbeitungen des frühen 19. Jahrhunderts als Quelle für Gesangsverzierungen nutzbar, und Arnfried Edler widmet sich dem Symphonischen in den Klavierkonzerten Beethovens und Schumanns. Eher biographischen Charakter haben Klaus-Peter Kochs Bemerkungen zu Adolph Henselt als Interpret und Pädagoge. Die Herausgeber Christian Philipsen, Monika Lustig und Ute Ormonsky haben mit großer Sorgfalt einen Band vorgelegt, den eine große thematische Bandbreite charakterisiert und dem zu wünschen ist, dass er weitere, vertiefende Studien zum faszinierenden Thema des Klavierspiels und des Klavierbaus im 19. Jahrhundert anzuregen vermag.