Schumann-Handbuch 2006/1

Die Tonkunst
Magazin für Klassische Musik und Musikwissenschaft, Juli 2007
Nr. 3, Jg. 1 (2007), S. 298 bis 299


Ulrich Tadday (Hg.): Schumann Handbuch
Stuttgart [u.a.] (Metzler/Bärenreiter) 2006

Zu behaupten, die Musikwissenschaft hätte, was die Forschung zu Robert Schumann betrifft, bislang nur mustergültige Arbeit geliefert, dürfte zumindest gewagt sein. Es gibt noch immer gravierende Vorurteile, die diesen Komponisten betreffen. Wohltuend ist festzustellen, dass sich das Bild in den letzten Jahren wandelt. Manche Unternehmungen, wie die Editionen im Rahmen der Neuen Robert-Schumann-Studien, liefern mittlerweile hervorragende Ergebnisse und genießen hohe Anerkennung auch über die Fachgrenzen hinaus. Aber es gibt noch viel zu tun. Vor allem die noch im Handel erhältlichen Notenausgaben, sofern sie nicht der neuen Gesamtausgabe entsprechen, enthalten viel Fragwürdiges. Man muss bedenken, dass erst vor vier Jahren zum ersten Mal ein vollständiges »Thematisch-bibliographisches Werkverzeichnis« erschienen ist. Unter diesen Umständen kann man das Schumann-Handbuch, das jetzt bei Metzler/Bärenreiter erschienen ist, als Wiedergutmachung verstehen. Der Autorengruppe um Ulrich Tadday ist ein Nachschlagewerk zum 150. Todestag von Robert Schumann gelungen, dessen Qualitäten nicht hoch genug eingeschätzt werden können und das mit Sicherheit den Rang eines Standard-Werkes erhalten wird. Das verwundert auch nicht, sind doch hier viele führende Schumannforscher versammelt.

Schlägt man das Inhaltsverzeichnis auf, so wird einsichtig, dass es dem Herausgeber Ulrich Tadday nicht darum ging, Fakten lexikalisch zu sammeln. Er formuliert sein Anliegen im Vorwort: »Das Schumann-Handbuch ist nicht einfach ein Buch über Schumanns Leben und Musik. Es ist vielmehr der Versuch, in einem Buch der Universalität von Schumanns Schaffen annähernd gerecht zu werden.« Die wissenschaftlichen Voraussetzungen sind hierfür durch die Schumann-Forschungsstellen in Düsseldorf und Zwickau geschaffen worden. Nebenbei bemerkt, noch 1956 wurde in der Festschrift (hgg. von Hans Joachim Moser und Eberhard Rehling, Leipzig 1956) zum 100. Todestag die gesamtdeutsche Redaktion betont und es gab auch noch ein deutsches »Schumann-Komitee«. Glücklicherweise sind diese Zeiten vorbei, wurde doch durch die politische Teilung so mancher Forschungsansatz behindert, wenn nicht unmöglich gemacht. Aber noch immer ist es so, dass Gerd Nauhaus, der ehemalige Direktor des Robert Schumann Hauses in Zwickau am Ende seiner Darstellung der »Tendenzen der Schumann-Forschung« zum Schluss kommt, dass dieser Forschung noch immer das Zentrum fehlt (S. 10). Es ist zu hoffen, dass selbiges nicht durch rivalisierende Streitigkeiten behindert wird. Wer sich aber derzeit fundiert und exakt über den Stand der Schumann-Forschung informieren möchte, kommt um diesen Aufsatz nicht herum.
Peter Gülke stellt in seinem exzellenten Essay »Robert Schumanns jubelnd erlittene Romantik« fest, »dass er in unseren musikalischen Vorstellungen, Erwartungen, Denk- und Fühlweisen ohnehin ›drinstecke‹« (S. 17). Ausgehend von dieser These zeigt er ein faszinierendes Netzwerk von biographischen, historischen und kompositorischen Details auf, die mit einer erstaunlichen analytischen Tiefenschärfe untersucht werden. Manches mag elliptisch sein, reizt aber zum Nachdenken. Schon das Oxymoron »jubelnd erlittene« bringt dies geistreich in der Überschrift zum Ausdruck. Drei Kapitel sind Fragen zur Ästhetik gewidmet. Bettina Baumgärtel untersucht die ästhetisch-kunstphilosophischen Vorstellungen und die Beziehungen Schumanns zu bildenden Künstlern. Hierbei werden spezielle Fragen der Rezeptionsästhetik behandelt. Spannend vor allem die Untersuchungen der Beziehungen zwischen »Kunstöffentlichkeit und bürgerlichen Mäzenatentum« (S. 92). Den Musikschriftsteller, Tagebuch- und Briefautor Schumann stellt Uwe Schweikert mit seinem Beitrag »Das literarische Werk – Lektüre, Poesie, Kritik und poetische Musik« vor.

Das ästhetische Konzept, den Einfluss von Philosophen und Dichtern, den poetischen Realismus und den romantischen Humor untersucht Ulrich Tadday in seinem Artikel »Zur Musikästhetik Robert Schumanns«. Es ist das Verdienst von Tadday, komplexe Sachverhalte komprimiert dargestellt zu haben. Die Bedeutung von Jean Paul für Schumanns ästhetische Vorstellungen wird einsichtig untersucht, aber auch, und das ist neu, die Bedeutung der Philosophie von Friedrich Heinrich Jacobis. Manche verzwickte Fragen, zum Beispiel die nach dem Poetik-Begriff, erfahren bei Tadday eine stupend sinnige Erklärung: »Von besonderer Bedeutung ist also, dass die Poetisierung des Lebens immer wieder auf die wirkliche Welt, auf das Leben selbst zurückgeworfen wird, d. h. die ›Brotverwandlung ins Göttliche‹ wird – um im Bild zu bleiben – vom Lebenshunger bedingt wie bedroht.« (S. 132) Die Reflexionen sind überaus instruktiv und es wird einsichtig, dass die musikhistorische Sache die eine Seite ist, die andere aber der Umgang mit ihr und ihre Aneignung. Der Blick muss dafür geschärft werden, dass dies zusammengehört.

Gleiche Qualitäten zeichnen auch den Aufsatz »Poesie und Handwerk. Robert Schumanns Schaffensweise« aus. Bernhard Appel ist nicht nur ein kluger Kopf, sondern er schafft es auch, trockene Materie, wie zum Beispiel die Bedeutung von Korrekturfahnen, zum spannenden Ereignis zu machen. Appel legt einsichtig dar, dass Schumann die Korrekturfahnen aufführungspraktisch nutzte und seine Komposition so akustisch überprüfte (S. 176). Vermeintlich so entlegene Aspekte wie Schumanns Verhältnis zu seinen Kopisten oder Schumanns Einflussnahme auf die optische Gestaltung der Notendrucke werden bei Appel spannend wie ein Krimi, weil sie nämlich wichtige Fragen zu Robert Schumanns Schaffensweise beantworten. Appel spricht in diesem Zusammenhang von einer ›zweiten Komposition‹ (S. 169). Weitere wichtige Aspekte, auf die Appel verweist, sind Fragen nach »fremdgefertigten Werkbearbeitungen«, die von Schumann autorisiert worden sind, Titelblattgestaltungen, usw. Appels Fragestellungen sind interessant und aufschlussreich. Sie sind der »critique génétique« verpflichtet, die das »vollendete« Kunstwerk als einen »Zustand unter vielen« betrachtet und versucht, in einem hermeneutischen Zirkel, der der komplexen Zeitlichkeit des Schreibprozesses verpflichtet ist, zu neuen Erkenntnissen zu kommen.
Subtil und einfallsreich geht Hubert Moßburger bei der Deutung der Harmonik in seiner Abhandlung »Poetische Harmonik« vor. Durch Aufzeigen von vier – wie er es nennt – Wesenmomenten (S. 195) legt er einsichtig dar, dass die Kategorie des Poetischen das Tor zum Verständnis der harmonischen Zusammenhänge bei Schumann ist. Überaus spannend der Abschnitt »Transformation harmonischer Werte« (S. 205). Hier wird aufgezeigt, wie zukunftsweisend Schumanns Denkweise war. Man muss nicht unbedingt Adorno mit seiner Ausführung zum Gebrauch des C-Dur-Akkordes bei Alban Berg zitieren, ähnliches gab es auch schon bei Schumann.
Einen großen Stellenwert haben die Werkanalysen. Hier lässt sich so manche Entdeckung machen. Auch hier wurde gemäß des Verdikts von Arnold Schönberg darauf geachtet, übergreifende Zusammenhänge erkennen zu lassen. Die einzelnen Abschnitte sind wie folgt: Klaviermusik (Arnfried Edler, Joachim Draheim, Ulrike Kranefeld), Kammermusik (Irmgard Knechtges-Obrecht), Orchestermusik (Jon W. Finson, Peter Jost, Joachim Draheim) und Vokalmusik (Christian Tewinkel, Thomas Synofzik, Hansjörg Ewert).

Die wissenschaftliche Arbeit wird durch das den Beiträgen angehängte Literaturverzeichnis erleichtert, aber auch durch eine ausführliche Zeittafel (1810-1864), ein Werkverzeichnis sowie ein Personen- und Werkregister. Wobei man leider die Namen des aufschlussreichen Aufsatzes »Robert Schumann in fremden Werken: Von Clara Wieck-Schumann bis zur Neuen Musik« von Wolf Frobenius nicht eingearbeitet hat. Dafür hat dieser ein eigenes Register. Aber das sind nur marginale Anmerkungen. Abgerundet wird der auch optisch ansprechende Band durch weitere wirkungsgeschichtliche Aspekte: »Robert Schumann in der Musikgeschichtsschreibung und Biographik« von Frank Hentschel und »Das Schumann-Bild in der Bellestristik« von Matthias Wendt.

[Michael Pitz-Grewenig]