Einblicke in Abgründe
Harnoncourt über die Romantik
Neue Zürcher Zeitung (NZZ) vom 15. Dezember 2007
Die zu einem materialdichten Band gebündelten Gespräche mit Nikolaus Harnoncourt über die Musik der Romantik kultivieren das, was der österreichische Dirigent bei seiner Arbeit stets in den Mittelpunkt stellt – den Dialog. Er habe den Widerspruch gerne, wenn er keinen Gesprächspartner finde, gebe es notfalls eine heftige Diskussion mit sich selbst, sagt Harnoncourt. Von daher ist dies die angemessene Form, um die Denkbewegungen des innovativen Musikers aufzuzeichnen. Häufig äussern die Interviewer Erstaunen darüber, dass der Dirigent sich nach seinen bahnbrechenden Interpretationen alter Musik den Werken der Romantik zugewandt hat. «Meine musikalische Urheimat ist das späte 19. und das frühe 20. Jahrhundert», entgegnet Harnoncourt. In seiner Jugend spielte er im Elternhaus vorwiegend romantische Kammermusik, als 18- Jähriger hielt er sich für einen «Dvořák- oder Richard-Strauss-Spezialisten».
Die Protagonisten des Buches heissen Beethoven und Schubert, Verdi und Johann Strauss, Schumann, Brahms und Bruckner. In seinen Ausführungen zur Interpretation romantischer Musik lässt Harnoncourt den Leser an seinen Erfahrungen als Dirigent teilhaben. Sein zentrales Anliegen: die Inhalte eines Werkes über die Dimension des reinen Schönen hinaus bewusst zu machen. Sein Herz hänge am meisten an Schuberts Musik, verrät Harnoncourt: «In der Kunst sich so sehr der schwarzen und traurigen Seite des Lebens zuzuwenden und doch zugleich einen ganz fernen Hoffnungsschimmer, einen Lichtschimmer durchblicken zu lassen, das finde ich in einer so ehrlichen Weise wie bei Schubert bei keinem anderen Komponisten.»
Mit solchen treffenden Charakterisierungen erweist sich Harnoncourt letztlich selbst als ein Romantiker. Gute Musik ist für ihn eine, die «den Blick in Abgründe aufreisst und echte Inhalte vermittelt». Als Titel leiht sich das Buch Robert Schumanns Tagebucheintrag «Töne sind höhere Worte». Ihren Sinn zu erforschen und zu entschlüsseln, darin sieht Harnoncourt eine nie endende Aufgabe, wobei er hinsichtlich seiner musikalischen Auffassungen lieber von «korrektem Lesen» als von Konzepten spricht. Seine lesenswerten Ausführungen regen zur Auseinandersetzung an, verlieren aber niemals den Blick für das Wesentliche der Musik. Denn schliesslich, so Harnoncourt, ist die Kunst «die Nabelschnur, die uns mit dem Göttlichen verbindet».
Martina Wohlthat
Nikolaus Harnoncourt: Töne sind höhere Worte. Gespräche über
romantische Musik. Hg. von Johanna Fürstauer. Residenz-Ver-
lag, Salzburg 2007. 414 S., Fr. 38.50.