Wie viel Reich war im Orchester?
Die Berliner Philharmoniker und ihre Rolle im nationalsozialistischen Deutschland
Von Marco Frei
Neue Zürcher Zeitung (NZZ) vom 15. Dezember 2007
Lange wurde das Thema vermieden, heute wird die Rolle der Berliner Philharmoniker als NS-Reichsorchester offen diskutiert – auch vonseiten des Klangkörpers selbst. Anlässlich des 125-Jahr-Orchester-Jubiläums sind drei Bücher erschienen, die diese Thematik aufgreifen.
Als die Berliner Philharmoniker Ende August dieses Jahres bei den Salzburger Festspielen unter der Leitung von Simon Rattle und mit dem Solisten Gidon Kremer das Violinkonzert von Robert Schumann spielten, setzten sie ein Zeichen. Ein selbstkritisches sogar. Denn es war am 26. November 1937, als dieses damals vollkommen vergessene Werk auf der gemeinsamen Jahrestagung der Reichsmusikkammer und der NS-Gemeinschaft «Kraft durch Freude» durch das Orchester zu postumer Uraufführung gebracht wurde. Um eine Rehabilitation Schumanns ging es seinerzeit allerdings nicht, vielmehr sollte das Violinkonzert des Juden Felix Mendelssohn Bartholdy ersetzt werden. Darüber ist in den neuen Büchern von Misha Aster, Herbert Haffner und der Philharmoniker-Stiftung über die Berliner Philharmoniker nichts zu lesen, dafür aber manch anderes. Aus drei unterschiedlichen Blickwinkeln wird das Verhältnis des Klangkörpers zum Dritten Reich durchleuchtet. Dabei entsteht ein höchst differenziertes Bild, das die wichtige Aufarbeitung der dunklen Vergangenheit des Orchesters weiterführt. Da ist Haffners Buch «Die Berliner Philharmoniker. Eine Biografie»: Fokussiert auf die jeweiligen Chefdirigenten, zeichnet der freie Kulturpublizist die Geschichte des Klangkörpers nach.
EIN FAUSTISCHER PAKT
Während des Nationalsozialismus war Wilhelm Furtwängler die zentrale Dirigentenpersönlichkeit, und dies auch über seinen Rücktritt von allen Ämtern im Dezember 1934 hinaus. Das Porträt Furtwänglers, für das sich Haffner auf seine 2003 veröffentlichte Biografie des Dirigenten stützen konnte, entwirft das Bild eines Mannes, der – wie viele andere auch – der Überzeugung war, mit dezidiert unpolitischer Haltung einem dezidiert total politisierten Staat begegnen zu können. Ein fataler Irrtum, wie sich schon sehr bald herausstellte. Die Fakten, welche die drei Bücher ausführen, sind eindeutig.
Am Anfang war ein fast schon faustischer Pakt. Berlin, im Herbst 1933: Den 1882 gegründeten Philharmonikern geht es finanziell schlecht, Furtwängler und die Musiker bitten um Subventionierung durch das Reich. Der Klangkörper wird zum «Reichsorchester» und erfährt grosszügige Unterstützung mit zahlreichen Privilegien. «Der Preis ist hoch», schreibt Susanne Stähr; für die zweibändige Jubiläumspublikation «Variationen mit Orchester», die auch wegen der ausführlichen Musiker-Biografien einen reichen Fundus für weitere Forschungen bietet, hat die Dramaturgin von Lucerne Festival eine exemplarische Zusammenfassung jener Zeit verfasst. Und tatsächlich: Unverzüglich wird die Unabhängigkeit, auf welche die Musiker stets so stolz waren, aufgegeben. Die Philharmoniker werden dem Propagandaministerium von Joseph Goebbels unterstellt, fortan muss zu Propagandazwecken aufgespielt werden. Ab 1934 sind die Philharmoniker nicht mehr Gesellschafter, sondern gebundene Staatsdiener. Dies markiert den Beginn jenes sozialpsychologischen Phänomens, das der 29-jährige Opernregisseur und Geisteswissenschafter Misha Aster in seinem Buch «Das Reichsorchester» – die erste umfassende Studie hierzu überhaupt – eindringlich beschreibt. Demnach spiegelte sich in den Berliner Philharmonikern die damalige deutsche Gesellschaft wider. In diesem sozialen Mikrokosmos waren alle vertreten. So wurden rund 20 Prozent der Musiker Parteimitglieder, obwohl sie dazu nicht gezwungen waren (bei den Wiener Philharmonikern waren es über 40 Prozent). Denn bindend war einzig die Mitgliedschaft in der Reichsmusikkammer, womit das NS-Regime freilich nicht minder wirkungsvoll den Zugang zum Orchester kontrollierte. Auch gab es vier jüdische und zwei teilweise jüdische Musiker, für die sich Furtwängler einsetzte und die trotz «Arierparagraph» geduldet wurden. Doch schon Ende 1935 sassen keine Juden mehr im Orchester, obwohl es laut Aster keinen direkten Befehl von oben gab. Unerträglich seien die alltäglichen Schikanen geworden – vermutlich auch vonseiten einiger Kollegen; zumindest zitiert Haffner ein Orchestermitglied, wonach einige zu den Proben in SA-Uniform erschienen sein sollen. Und schliesslich gab es die schweigende Masse, wobei die Bücher auch auf die Atmosphäre von Furcht und Drohung hinweisen. Einziges Beispiel für nennenswerten Widerstand war letztlich Furtwänglers Eintreten für die «entartete» Musik von Paul Hindemith, das ihn 1934 seine Ämter kostete.
ANPASSUNG UND WIDERSTAND
Natürlich können die drei Bücher nicht alle Fragen klären. Zu ergründen bleibt etwa, ob und in welchem Mass die damaligen Konzertprogramme der Berliner Philharmoniker von NS-Ideologie geprägt waren. Einerseits hat das Orchester Hindemith oder Mendelssohns «Sommernachtstraum» aufgeführt, andererseits wurde 1941 eine «arisierte» Fassung des Requiems von Mozart eingespielt und eben Schumanns Violinkonzert als Ersatz für jenes von Mendelssohn uraufgeführt. Und da ist Leopold von Schenkendorfs Hitler-Hymne «Gott sei mit unserm Führer», die das Orchester 1934 aufgenommen hat. Die zweite Strophe lautet: «Freiheit ist unsre Sehnsucht, / Freiheit ist uns Gebot, / Wir wollen keine Knechtschaft, / Lieber geh'n wir in den Tod.»
Misha Aster: Das Reichsorchester. Die Berliner Philharmoniker und der Nationalsozialismus. Siedler, Berlin 2007. 400 S.,
Fr. 38.90.
Herbert Haffner: Die Berliner Philharmoniker. Eine Biografie.
Schott, Mainz 2007. 336 S., Fr. 39.80.
Stiftung Berliner Philharmoniker (Hg): Variationen mit Orches-
ter. 125 Jahre Berliner Philharmoniker. Henschel, Berlin 2007.
2 Bde., 800 S., Fr. 69.40.