Rezension Höhr zu Burkard Schliessmann

„Mit Robert Schumann: Fantasies hat Burkard Schliessmann der Schumann-Interpretation neue Horizonte erschlossen. Seine Darbietungen vereinen den für das Verständnis von Schumanns Musik notwendigen Intellekt, höchste Poesie und genau den richtigen Instinkt für Klangfarben, Agogik und Tempo.“  (Daniel Höhr)

Burkard Schliessmann, Robert Schumann: Fantasies
Divine Art (ddc 25753)

Innerhalb von fünf Monaten nach der Veröffentlichung seines live eingespielten und ebenfalls auf dem Label Divine Art erschienenen Albums Live & Encores legt Burkard Schliessmann mit Robert Schumann: Fantasies eine umfangreiche Einspielung von Schumanns Phantasmagorien für Klavier vor. Auf gleich drei SACDs befinden sich Aufnahmen der Fantasiestücke op. 12, der Kreisleriana op. 16, der Fantasie in C-Dur op. 17, der Arabeske op. 18, der Nachtstücke op. 23 sowie der Drei Fantasiestücke op. 111 und der Gesänge der Frühe op. 133. 

Es ist nicht nur die zeitliche Nähe der Veröffentlichungen der beiden Alben, die ihnen den Charakter eines Doppelpacks gibt, sondern auch die Tatsache, dass beide Alben Schumanns Fantasie in C-Dur und die dritte Nummer der Fantasiestücke op. 12, „Warum?“, beinhalten. Live & Encores und Fantasies zeigen sehr eindrucksvoll Burkard Schliessmanns Spiel in vollkommen unterschiedlichen Situationen: Live & Encores wurde an drei aufeinanderfolgenden Abenden im April 2023 live vor Publikum im Konzertsaal von Fazioli in Mailand aufgenommen, so dass für jedes Stück nur drei Takes für das final editing vorlagen. Schliessmann spielt hier einen F278 von Fazioli. Fantasies hingegen wurde von Ende August bis Anfang September 2023 in den Berliner teldex studios eingespielt. Hier spielt Schliessmann einen D-274 von Steinway & Sons und benutzt dabei zwei unterschiedlich intonierte Mechaniken. Während Live & Encores den „unmittelbaren und spontanen Eindruck“ (so Burkard Schliessmann in einer E-Mail an den Verfasser) der Musik in der Livesituation vermittelt, das Gefühl des Kommunizierens des Künstlers mit dem Publikum und den gegenseitigen Austausch von Spannung erfahrbar macht, ist die Situation im Studio eine andere. Unter den richtigen Voraussetzungen lässt sich hier die „Sache auf den Punkt bringen“ (Schliessmann). Dazu gehören neben den akustischen Gegebenheiten des Studios auch das Instrument, die technische Ausrüstung und die Zusammenarbeit mit dem Produzenten. 

Im vorliegenden Falle treffen alle Bedingungen optimal zusammen. Burkard Schliessmanns interpretatorisches Gespür, seine intellektuelle Durchdringung von Schumanns Notentext und seine perfekte Technik kommen in den akustischen Gegebenheiten des Studios und in den Händen seines Produzenten Julian Schwenkner optimal zur Geltung. Die insgesamt vierzehn Mikrofone, die Schliessmanns Spiel auf dem hervorragenden Steinway & Sons in Dolby Atmos einfangen, sorgen für eine Schumann-Einspielung, die nicht mehr und nicht weniger als ein Meilenstein ist. 

Robert Schumanns poetische Phantasmagorien stellen höchste Ansprüche intellektueller, interpretatorischer und technischer Art an den Pianisten. Es lohnt sich immer wieder, sich die Zusammenhänge von Poesie, Fantasie und Wirklichkeit in Schumanns Gedankenwelt zu vergegenwärtigen. Dazu ist die Lektüre von Schliessmanns Essay „Robert Schumanns Phantasmagorien“, das den Kern der ausführlichen Liner Notes des Albums ausmacht, dringlichst empfohlen. Darin heißt es, dass in der Literatur Autoren wie Gérard de Nerval, Hölderlin oder Charles Lamb, versuchten „eine neue Form des Verstehens an die Stelle des logischen Denkens, des Rationalismus, zu setzen“. Schumann sei der „Repräsentant dieser Schule in der Musik“ und der aufmerksame Hörer werde „diesen unlogischen, irrationalen, fast verrückten Aspekt“ der Musik Schumanns, empfinden. 

Doch dies ist nur eine Seite von Schumanns Klaviermusik. Die andere ist die strukturelle, die architektonische. An einer anderen Stelle in den Liner Notes stellt Burkard Schliessmann die Bedeutung der polyphonen Musik älterer Meister für Schumann heraus, in der Schumann ein romantisches Prinzip erkannte, nämlich den Ausdruck der „geheimnisvollen Verwandtschaften zwischen den Seelen und Dingen“ in der Stimmenverflechtung kontrapunktischer Musik. Beides hörbar, erfahrbar zu machen – die poetischen, geheimnisvollen und fantastischen Aspekte sowie die formalen, strukturellen – gelingt Burkard Schliessmann in der vorliegenden Einspielung mustergültig. 

Den Anfang bilden die Kreisleriana, acht Sätze, die Schumann innerhalb weniger Tage in einem Anflug von innerer Aufgewühltheit und depressiven Stimmungen 1838 schrieb. Die Stücke wurden inspiriert durch E. T. A. Hoffmanns skurriler Kapellmeister-Figur Johannes Kreisler, die im Wahnsinn endet. Schon im ersten Satz „Äußerst bewegt“, einem wahren „Florestan“, werden die inneren Turbulenzen spürbar und hier zeigt sich eine der großen Stärken Schliessmanns Interpretation, nämlich in der Tempowahl. Schliessmann tendiert bei schnelleren Sätzen zu vergleichsweise etwas zurückgenommenen Tempi, ohne dass die Stücke dabei an Spannung verlieren. Im Gegenteil: durch Klangfärbung und Phrasierung bringt Burkard Schliessmann den drängenden Florestan-Charakter des ersten Satzes erst recht zur Geltung. Das Gleiche lässt sich auch an anderen Stücken auf dem Album feststellen, so zum Beispiel beim „Aufschwung“ und „In der Nacht“ aus den Fantasiestücken op. 12. Niemals wird bei Schumann Virtuosität zum Selbstzweck und Schliessmann folgt dieser Maxime treu (im Gegensatz zu anderen seiner Kolleginnen und Kollegen). Vielmehr steht Virtuosität (im Sinne von technischer Perfektion) bei Schliessmanns Schumann-Interpretation immer im Dienst der Poesie -- und das mit einer Leichtigkeit und Durchsichtigkeit, dass man die zum Teil enormen technischen Schwierigkeiten von Schumanns Klaviersätzen, gerade in den Kreisleriana, als solche nicht bemerkt. 

Auch die lyrischen Eusebius-Sätze haben eine poetische Tiefe, die man so selten zu hören bekommt. So besticht Schliessmanns Darbietung des langen zweiten Satzes der Kreisleriana durch perfekt kontrolliertes Legatospiel, das die Vielschichtigkeit der Polyphonie stets gesanglich und plastisch hervorhebt. Die drängenden Passagen kommen weich und geheimnisvoll daher, alles entwickelt sich organisch, alles ist im Fluss. 

Die auf Fantasies vorliegende Studioeinspielung der Fantasie in C-Dur lädt zum Vergleich mit der Liveaufnahme auf Live & Encores ein. Vor allem im dritten Satz fällt auf, dass Schliessmann in der Studioaufnahme bewusst ein langsameres Tempo wählt. Während auf Live & Encores der Satz eine Spieldauer von 8:18 hat, spielt er ihn auf Fantasies in 9:03. Hier wird deutlich, wie unterschiedliche Situationen – live und Studio – sich auf die Interpretation auswirken. Hier ein größeres Fließen, dort ein eher sphärischer Zustand. Beides ist jedoch absolut schlüssig und es ist lohnend, Schumanns Fantasie in C-Dur von beiden Aspekten aus betrachten.

Die folgende Arabeske op. 18 ist auf Fantasies gleich zweimal aufgenommen. Leicht tänzerisch kommt sie am Ende der ersten SACD daher. Ihre zarten Verästelungen spielt Schliessmann mit einem selten zu findenden Reichtum an Nuancen und den Schluss mit einer nahezu impressionistischen Tongebung, die nicht mehr von dieser Welt zu sein scheint. Die zweite Version auf Disc B, Track 9 ist mit der zweiten, weicher intonierten Mechanik gespielt. Der Ton ist mittiger und sanfter, der Charakter lyrischer.

Zart und durchsichtig in der Polyphonie wirkt „Des Abends“, die erste Nummer der Fantasiestücke op. 12. In diesen acht Miniaturen zeigt sich Schumanns Stärke, auf engem Raum vollendete Geschichten zu erzählen, die in Burkard Schliessmanns Händen eine selten zu hörende poetische Qualität erreichen. So bekommt die fünfte Nummer, „In der Nacht“ (übrigens Schumanns Lieblingsstück aus dem Werk) ihre leidenschaftliche Qualität nicht allein durch das Tempo. Was andere Pianistinnen und Pianisten leider auf Teufel komm heraus runterbrettern, lässt Schliessmann im richtigen Verhältnis zum gesanglichen Mittelteil spannungsreich artikuliert aber stets transparent aufleben und erzielt so eine erzählerische Wirkung, die der Legende von Hero und Leander, die Schumann im Nachhinein in diesem Stück erkannte, vollkommen gerecht wird. Auch die humorvollen „Grillen“ sind poetisch transzendiert und wo bei anderen Interpreten „Traumes Wirren“ gerne mal zur einer oberflächlichen Zirkusnummer wird, wird bei Schliessmann jede Note lebendig und führt in die Tiefen des uns Streiche spielenden Unterbewussten. Wie die Arabeske ist auch die Disc B abschließende zweite Version von „Des Abends“ mit der weicher intonierten Mechanik gespielt. Losgelöst aus dem Zusammenhang des Zyklus der Fantasiestücke op. 12 setzt diese Version eher auf Klangfarben und wieder einmal arbeitet Schliessmann hier eine fast schon impressionistische Qualität heraus. 

Gleichzeitig sind die beiden mit der weichen intonierten zweiten Mechanik gespielten Tracks (Arabeske und „Des Abends“) auch eine klangliche Vorbereitung auf die Nachtstücke op. 23, die die dritten SACD des Albums eröffnen. Auch in der ersten und vierten Nummer des 1839 entstandenen Zyklus, dessen Titel den gleichnamigen Erzählungen E.T.A. Hoffmanns entlehnt ist, kommen die weicheren Hammerköpfe zum Einsatz, was dem düsteren, immer wieder stockenden Trauermarsch, der den Zyklus eröffnet, klanglich sehr entgegenkommt. Sanft und introvertiert, aber dennoch düster, wirkt der Satz und entfaltet schon fast eine hypnotische Wirkung. Die polyphonen Strukturen im zweiten Satz arbeitet Schliessmann mit Anschlagskunst in höchster Vollendung heraus, die kapriziösen Momente des dritten Satzes bestechen durch ihre Farbgebung, während das abschließende vierte Stück, bei dem wieder die weicher intonierten Hammerköpfe verwendet werden, wie aus einer anderen Sphäre klingen. 

Wie eine Rückbesinnung auf seine Phantasmagorien für Klavier, die zwischen 1837 und 1839 entstanden, wirken die Drei Fantasiestücke op. 111 aus Schumanns Zeit als Musikdirektor in Düsseldorf – eine generell sträflich vernachlässigte Phase seines Schaffens, in der Schumann einen Teil seiner großartigsten Werke schrieb. Schliessmanns Darbietung führt den Hörer durch alle Regionen des Empfindens, kräftig und leidenschaftlich zu Beginn, gesanglich im zweiten Satz und mit dem richtigen Maß an Energie, wunderbar herausgearbeiteten Kontrasten in Mittelteil und fein strukturierten Arabesken zum Schluss im dritten Satz.

Den Abschluss des Albums bilden die aufgrund ihrer Komplexität und schweren Zugänglichkeit selten gespielten Gesänge der Frühe op. 133, die Robert Schumann kurz bevor er sich im Februar 1854 in den Rhein stürzte, noch dem Verleger F. W. Arnold anbot. In seinem Brief an Arnold bezeichnete Schumann die fünf der Dichterin Bettina von Arnim gewidmeten Stücke als Musik, „die die Empfindungen beim Herannahen des Morgens schildern, aber mehr als Gefühlsausdruck als Malerei.“ (zitiert nach den Liner Notes). Schliessmanns Darbietung trifft genau diesen Ton. Bei aller Komplexität der Komposition wirkt Schliessmanns Interpretation dennoch transparent; jeder Ton, jede Phrase ist mit Sinn erfüllt, bis in die Tiefe intellektuell und emotional ausgelotet und erfahrbar gemacht. Sowohl für den Choral zu Beginn als auch für das abschließende Stück kommt wieder die zweite Mechanik mit den weicheren Hammerköpfen zum Einsatz und bedingt einen mittigen, sanften Ton. Wie eine Apotheose von Schumanns fantastisch-poetischem Klavierschaffen wirkt dieses Werk und bildet den perfekten, schon fast transzendenten Abschluss dieses großartigen Albums.

Mit Robert Schumann: Fantasies hat Burkard Schliessmann der Schumann-Interpretation neue Horizonte erschlossen. Seine Darbietungen vereinen den für das Verständnis von Schumanns Musik notwendigen Intellekt, höchste Poesie und genau den richtigen Instinkt für Klangfarben, Agogik und Tempo. An diesen Aufnahmen wird zukünftig kein Hörer und vor allem kein Interpret vorbeikommen. Schliessmann reiht eine Referenzeinspielung nach der anderen auf diesem Album, das auch in Sachen Sound, Aufmachung und Informationsgehalt höchsten Ansprüchen genügt.  

Robert Schumann: Fantasies von Burkard Schliessmann erscheint am 15. März 2024 auf den Label Divine Art.

Daniel Höhr, März 2024