Unterm Strich

Berliner Zeitung, Ausgabe 118 vom 22.05.2006, S. 29
Feuilleton

ABBADO
Alpenkuhreigen in der Philharmonie

Wolfgang Fuhrmann

Im Grunde meines Herzens", hat Claudio Abbado vor kurzem gesagt, "bin ich ein Gärtner". Das war in einem Interview mit dem BBC Music Magazine, und Abbado hat es wörtlich gemeint: Er möchte mit den Bäumen in Erinnerung bleiben, die er gepflanzt hat. Aber welches bessere Bild ließe sich für den Musiker, den Dirigenten Abbado finden als das eines Gärtners?

Ein Gärtner lässt gewähren. Er weiß, alles hat seine Zeit und braucht seinen Raum. Er sorgt für die kleinste Pflanze wie für den mächtigsten Stamm. Wo er eingreift - im Zurückschneiden und Ausjäten, im Gießen und im Lockern des Bodens - da geschieht dies um des besseren Gedeihens willen. Manchmal, am Abend des siebten Tages, kann der Gärtner dann auch einfach nur durch den Garten gehen und ihm beim Leben zusehen: Und siehe, es ist alles gut.

Ein Konzert mit Claudio Abbado, wie jenes mit den Berliner Philharmonikern am Freitag, vermittelt immer eine solche Erfahrung des Gewähren- und Gedeihen-Lassens. Bei wenigen Dirigenten stellt sich so stark der Eindruck her, dass hier keine "Auffassung" vorgetragen wird, keine "Entdeckungen" gemacht werden außer der Entdeckung der Musik selbst in ihrem vegetativen Sein: des gleichsam absichtslosen Blühens und Und so wie der Gärtner am Sonntagabend mit Strohhut und grünem Schurz ein Teil des Gartens selbst geworden zu sein scheint, so wirkt auch Abbado mitunter durchscheinend, ja unsichtbar in der Musik. Die Krankheit, die ihm vor sechs Jahren ans Leben wollte - das Dirigieren, sagt man, habe ihn gerettet -, hat seine Physis noch fragiler werden lassen.

Diese Neigung, sich selbst zum Verschwinden zu bringen, hat in der Philharmonie zu einem höchst merkwürdigen Abend Anlass gegeben. Denn genau dies war sein Thema: die Suche danach, sein Selbst auszulöschen und aufzulösen. In Richard Wagners Wesendonck-Liedern träumt die Stimme davon, "ferne jedem Schmerz" zu sein, "in selig süßem Vergessen", ja in "Allvergessen, Eingedenken" dem Willen zum Leben zu entsagen. Bei Abbado klangen diese Lieder dem träumerischen Pulsieren des Waldwebens näher als dem Rausch des Tristan. Der Beginn von "Im Treibhaus" erklang so entmaterialisiert, dass das Verschweben in den Violinen an die Grenze des Hörbaren geriet, und die Bläserakkorde in "Träume" schienen im Schlaf zu wandeln. Nur die helle, spröd artikulierende Stimme von Anne Sofie von Otter wollte sich nicht in diesem Traum verlieren.

Beim Betreten des Auditoriums der Philharmonie hatte sich der Besucher unverhofft in den Schweizer Alpen wiedergefunden: Wolken- und Berglandschaften schmückten die Ränge, denn dort spielt Robert Schumanns Dramatisches Gedicht "Manfred" nach Lord Nach der Pause erlosch das Saallicht, Abbado und die Philharmoniker musizierten an beleuchteten Pulten wie in der Oper. Und nach der Ouvertüre, in der das große Thema der Violoncelli zu glühen schien, traten die Schönheiten dieser Musik immer mehr in den Hintergrund. Vor den "Weinbergterrassen" (Hans Scharoun) der Ränge, in der Seelenlandschaft einer ausgefeilten Lichtdramaturgie, gab Bruno Ganz den Manfred. Von der höchsten Höhe über Block K blies ein Englischhornist einen Alpenkuhreigen.

Schumanns "Manfred" hört man fast nie vollständig. Dass diese Aufführung Anlass zu einer Rehabilitation wäre, davon können wir aber leider nicht berichten. Auch Byrons Manfred durchlebt die romantische Krise des Selbstbewusstseins auf seine Art - in einer Übersteigerung des Ich, das sogar über den eigenen Tod bestimmen will. Dieser Selbst-Herrlichkeit ist der Gesang versagt; Manfred darf nur sprechen. Bruno Ganz aber tat alles, um dieses große Thema kleinzureden - durch manieriert nuschelnden, ironisierenden Vortrag versuchte er darüber hinwegzutäuschen, dass er den Text nicht beherrschte. Auch auf dem Gipfel der "Jungfrau" blieb sein Blick immer im Buch. Stärker als Ganz (der einige Buhs kassierte) erwies sich die Präsenz von Dörte Lyssewski und Barbara Sukowa.
Man wünscht sich, der Gärtner Abbado würde sich selbst pfleglicher behandeln. Was nutzt es, im Verborgenen zu blühen? Doch nächstes Jahr wird er in der Philharmonie mit Edvard Griegs Bühnenmusik zu "Peer Gynt" ein ähnliches Experiment wagen. Auch das ist schöne Musik. Wer aber die großen Werke der Symphonik mit Abbado erleben will, der muss nach Luzern.