Syphilis oder schlicht verrückt?

Welt am Sonntag, 30. Juli 2006


Vor 150 Jahren starb Robert Schumann in einer Irrenanstalt in Bonn-Endenich. Nun wurde seine Krankenakte veröffentlicht - und aufs neue beginnt der Streit, welches Leiden ihn dahingerafft hat

Eigentlich hätte mit dieser Buch-Veröffentlichung Ruhe einkehren sollen. Es war ja weiß Gott genug über Robert Schumanns Ende spekuliert worden. Seit seinem Ableben wurden Vergiftungstheorien gesponnen, Horror-Szenarien von psychiatrischen Folterkammern erdichtet und Verdächtigungen gegen Schumanns Frau Clara geäußert. Außerdem mußte der im geistigen Dämmerzustand Dahinsiechende als Beispiel für jedes nur denkbare Genie-und-Wahnsinn-Klischee herhalten.

Denn die beiden letzten Jahre, die Schumann in der Endenicher Irrenanstalt zubrachte, waren lange Zeit ein blinder Fleck in seiner Biographie. Und der ließ sich mit den buntesten Fantasien und den schrillsten Theorien ausmalen.

Doch nun, rechtzeitig vor den Gedenkfeierlichkeiten, die an diesem Wochenende in Bonn und am Geburtsort Zwickau abgehalten werden, erschien die Dokumentation "Robert Schumann in Endenich (1854-1856) - Krankenakten, Briefzeugnisse und zeitgenössische Berichte". Auf 600 Seiten wird detailliert ausgebreitet, wie Schumann die beiden letzten Jahre verbrachte.

Jahrelang hielt der Komponist Aribert Reimann, Eigentümer dieses Nachlasses, Schumanns Krankenakten aus Pietät unter Verschluß. Doch dann, um den "abenteuerlichen Erfindungen" ein Ende zu bereiten, entschloß er sich Ende der 80er Jahre, das Geheimnis zu lüften. Und schon eine auszugsweise Veröffentlichung reichte den Fachleuten, um sich endlich auf eine Diagnose der Todesursache zu einigen: Schumann sei wie viele seiner Zeitgenossen an den Spätfolgen der Syphilis zugrunde gegangen, die er sich 21jährig geholt hatte, so lautet seitdem die mehrheitliche Meinung. Damit schien auch die Ursache für Schumanns sich lange anbahnende Geisteskrankheit geklärt, die mit seinem Rhein-Sprung am Rosenmontag des Jahres 1854 öffentlich und unübersehbar geworden war.

Die vorliegende Ausgabe listet ohne Kürzungen sämtliche Eintragungen auf, die die behandelnden Ärzte und Pfleger über den prominenten Patienten notierten. Beschrieben wird sein sich zunehmend verschlechternder Gemütszustand, seine Medikamentierung, sein Husten, das Rasseln in seiner Lunge, sein Stammeln und Stottern, seine Wutausbrüche, sein Zittern, sein Appetit, seine Spaziergänge, sein Pulsschlag, sein Bettnässen und auch die Beschaffenheit seines Stuhlgangs.

Unter dem Datum 29. Juli 1856 findet sich folgender Eintrag: "...54 Athmungen heute. Beim heutigen Besuch seiner Frau freundlich, dieselbe anlächelnd. - Bleiches Aussehen. Bei der visite starkes Schleimrasseln." Tags darauf notierte der Arzt nur noch: "...Starb gestern um 4 Uhr Nachmittag."

Angereichert ist diese Chronik eines sich ankündigenden Todes durch Briefe und Berichte, die der Herausgeber Bernhard Appel klug ausgewählt hat - und die beweisen, daß nichts dran ist an jenen Gerüchten, Clara Schumann habe ihren Mann nach Endenich abgeschoben, um ungestört einem Liebesverhältnis zum jungen Johannes Brahms nachgehen zu können.

Clara und Brahms sind mit dieser Veröffentlichung also rehabilitiert, die behandelnden Ärzte desgleichen. Und so weit ist alles in schönster Ordnung, wäre da nicht ein Aufsatz Uwe Henrik Peters', ehemals Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Uni Köln. Peters, Musikenthusiast und Hobbygeiger, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Schumann. Ihm hatte der Herausgeber den Auftrag gegeben, die Obduktionsbefunde der Endenicher Ärzte zu kommentieren. Peters kommt zu dem überraschenden Ergebnis, Schumann habe doch keine Syphilis gehabt, sondern eine andere, harmlose Geschlechtskrankheit.

Für Theo R. Payk, Professor für Psychiatrie und Psychologie an der Ruhr-Uni in Bochum, ist diese Diagnose nicht nachvollziehbar. Er beschäftigt sich ebenfalls mit Schumann - seit er als junger Assistenzarzt in Bonn auf das so rätselhafte wie anrührende Schicksal Schumanns aufmerksam wurde. Auch Payk hat soeben eine Schumann-Buch veröffentlicht, und darin legt er schlüssig die Syphilis-These dar. "Die beschriebenen Symptome sind geradezu klassisch. Und woran soll Schumann denn sonst gestorben sein?" fragt Payk nun.

Die Antwort darauf bleibt Peters in seinem Aufsatz schuldig. Auch in einem Telefongespräch hüllt er sich in Schweigen. Jedoch kündigt er eine umfassende Antwort an: Er arbeite seit Jahren an einem Buch, in dem er sich ausschließlich mit den letzten 14 Tagen vor Schumanns Einweisung in die Anstalt beschäftige. "Da finden sich deutliche Hinweise", sagt Peters. Mehr verrät er nicht. Man möge sich gedulden, bis sein Buch erscheine, der Textteil sei bereits fertig.

Daß Uwe Henrik Peters seinen Kollegen gerne Kontra gibt und mit seinen Außenseiter-Meinungen Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist in der Fachwelt hinlänglich bekannt. Und eigentlich könnte man sich darüber sogar freuen, daß dank Peters der medizinhistorische Fall Schumann auch über diesen Gedenktag hinaus noch spannend bleibt.

Doch anscheinend reichen selbst 150 Jahre nicht aus, um einigermaßen gelassen der Frage nach einer Todesursache nachzugehen. Stattdessen brechen nun alte Fronten wieder auf. In der Wochenzeitung "Zeit" erschien in der vorigen Woche ein aufgeregter Artikel, in dem der Autor der Düsseldorfer Schumann-Gesellschaft unterstellt, sie habe das jetzige Gutachten einzig und allein in Auftrag gegeben, um jenen Schandfleck zu tilgen, mit dem die Syphilis-These den von ihr verehrten Schumann beschmutze.

Dabei leugnet heutzutage kein Mensch mehr, auch nicht der gutachtende Psychiater Uwe Henrik Peters, daß der triebhafte Robert Schumann in seinen frühen Jahren mit Frauen der verschiedensten Milieus sexuell verkehrte - und sich bei einer von ihnen auch mit einer Geschlechtskrankheit ansteckte. Schließlich beschreibt Schumann selbst bis ins Detail jenes Geschwür, das ihn im Jahre 1831 plagte. Aber macht es aus der Sicht einer wie auch immer gearteten bürgerlichen Moral einen Unterschied, mit welcher Krankheit Ausschweifungen auf dem Lotterbett quittiert werden? Wohl kaum.

Die Frage Syphilis oder Nicht-Syphilis gewinnt allerdings auf einer anderen Ebene an Bedeutung: Am Ende einer Neuro-Syphilis steht die Erweichung und Zerstörung des Gehirns. Und um die posthume Syphilis-Diagnose wird deshalb mit soviel Eifer und Geifer gezankt, weil davon abhängt, ob man Schumanns seit jeher umstrittene späte Kompositionen als Einfälle eines zwar wahnsinnig werdenden, aber gleichwohl irgendwie genialen Kopfes würdigen darf. Oder ob man sie nun getrost abtun kann als schlichte Hervorbringungen eines in Auflösung begriffenen Gehirns, wie der "Zeit"-Autor etwas verklausuliert fordert.

Wer sich freilich mit dem Gehirn und seinen Funktionen beschäftigt, weiß, daß es niemals, schon gar nicht 150 Jahren nach dem Tod, möglich ist, eine trennscharfe Grenze zwischen einem "kranken" unproduktiven und einem "gesunden" produktiven Wahn zu ziehen.

Besser wäre es, Schumanns eigenes Wollen zu respektieren, das er in einem seiner letzten lichten Momente formulierte: "Die Virtuosenraupe" werde von ihm abfallen und ein "prächtiger Compositionsfalter herausfliegen", schreibt er im Februar 1854. Im Klartext: Schumann arbeitete bewußt an einem Wandel seines Kompositionsstils. Ob er dabei scheiterte oder nicht, muß jeder Musikfreund selbst entscheiden.

Andreas Fasel


Artikel erschienen am 30. Juli 2006