Schumanns Krankenakten

Rezension zur Edition der Krankenakten von Bernhard R. Appel
Rheinische Post Nr. vom 08.07.2006

VON WOLFRAM GOERTZ

Schumanns tragisches Ende

Bonn Es war der Rosenmontag im Jahr 1854, da Robert Schumann in Düsseldorf in einer von ihm als ausweglos empfundenen Lage in den Rhein sprang; den Ehering warf er mit hinein. Man denkt unweigerlich an das letzte Lied der "Dichterliebe" und die Zeilen: "Ich senkt' auch meine Liebe und meinen Schmerz hinein." Bald kam er ins Sanatorium Bonn-Endenich, wo er bis zu seinem Tod verblieb. Wer verbleibt, ist in die Zonen der Entmündigung eingetreten. Schumann war nicht mehr handlungsfähig, sein Gesundheitszustand abnorm: Er klagte über "Gehöraffektionen" und Wahnvorstellungen. Er war ein Fall für die Nervenanstalt. Eine solche war Endenich. Dort blieb der Komponist zwei Jahre bis zu seinem Tod am 29. Juli 1856. Täglich wurde über ihn Protokoll geführt.

Diese Krankenakten des Dr. Franz Richarz indes galten als verloren, verschollen in jenem Biotop der Unauffindbarkeit, in dem mangels Fakten die Legenden sprießen. Vor einiger Zeit tauchten sie indes in einem privaten Nachlass auf, der an den Komponisten Aribert Reimann ging; er ist über einige Ecken mit Richarz verwandt. Reimann entschloss sich nach langer Überlegung (Diskretion, Pietät und ärztliches Schweigegebot gegen das begründete Interesse der Nachwelt, die "Wahrheit" über falsche Legenden obsiegen zu lassen), die Akten veröffentlichen zu lassen. Das ist jetzt geschehen.

Man ist nach der Lektüre allerdings nicht schlauer, wenn es an die Beantwortung kardinaler Fragen geht. Bei Schumanns Einlieferung wurde keine Anamnese durchgeführt (jedenfalls ist sie nicht erhalten); und die Todesursache war ebenso unscharf definiert. Im Musikschrifttum taucht häufig die Formulierung "Hirnerweichung" auf; Schumanns behandelnder Arzt Dr. Richarz sprach von "unvollständiger progressiver Paralyse", eine Umschreibung für eine finale Situation der ins Gehirn ausgreifenden Syphilis.

Die Krankenakten lesen sich unspektakulär. Eintrag vom 14. März 1855: "Bei der Abendvisite ernst, antwortete nur mit Kopfnicken, daß es ihm nicht gut gehe, der Kopf leide. Heute gut gestimmt, erkundigt sich nach Briefen; äußerst schwer verständlich." Oder vom 28. April 1855: "Bezieht die einfältigsten Dinge auf Verfolgung des bösen Dämons; ist übrigens sehr freundlich; spricht viel bei den Besuchen, aber kaum verständlich. Aß und schlief gut. Stuhl keinen. Äußert bei der Visite die ganz unbegründete Ansicht, seine Uhr gehe zu schnell." Oder vom 14. Juni 1856: "Ernährung immer tiefer sinkend. Oedem der Füße, Abschilferung der Epidermis an vielen Stellen. Eßlust hinreichend. Stimmung in letzter Zeit oft unzureichend." So geht es hin, und man möchte irgendwann das Lesen einstellen, wenn dem Herausgeber der Krankenakten, dem Düsseldorfer Schumann-Forscher Bernhard R. Appel, nicht das Kunststück gelungen wäre, diese nüchterne Chronik mit erhellenden Dokumenten anzureichern, die nicht selten das gleiche Datum tragen. Vor allem Briefe von Clara Schumann und Johannes Brahms, in denen es um Schumann ging, sind hier aufschlussreich; dessen eigene Briefe sind verschollen.

Man kann aus alledem diverse Erkenntnisse ziehen. Die Rolle Claras in den beiden letzten Lebensjahren Schumanns muss jedenfalls neu bewertet werden. Dass sie nur einmal kurz vor seinem Tod in Endenich zu Besuch war, resultiert nicht aus Desinteresse, sondern aus Fügung in die ärztlichen Weisungen. Appel: "Erst nachdem Schumann von sich aus über Frau und Kinder spricht - freilich befangen in der Wahnvorstellung, Düsseldorf sei untergegangen und seine Frau sei tot oder wahnsinnig geworden -, wird Clara von den Ärzten gestattet, Briefkontakt mit ihrem Mann aufzunehmen."

Claras Briefe an Robert sind voller Zärtlichkeit; man wird jetzt den vorschnell geäußerten Verdacht, sie sei über die Verbringung Roberts nach Bonn nur froh gewesen, damit sie Zeit für Brahms hätte, beiseite stellen dürfen. Die Syphilis-These freilich ist mitnichten entkräftet; vor allem das neue Gutachten von Uwe Henrik Peters, einem Psychiater, weist fachliche Mängel auf (etwa falsche Einschätzung von Schumanns Infektiosität); der Eindruck beschleicht den Leser, als sei Peters angetreten, die bekannte These von Franz Hermann Franken, der die Syphilis-These bereits vor über zwanzig Jahren verfochten hatte, vorsätzlich zu entkräften.

Auch Appel hat sich im Vorwort verleiten lassen, übertrieben deutliche Worte gegen die "Spekulationsdynamik" zu richten, die in "tendenziösen Feuilletonartikeln" zu lesen sei. Nach Lektüre aller Texte ist es eben nicht unwahrscheinlich, dass Schumann doch an Syphilis gestorben ist. Der Komponist selber hat eine Infektion 1831 eindeutig als "syphilitisch" angezeigt. Wozu zweifeln? Damals war das Krankheitsbild weithin bekannt.

Beweisen lässt sich freilich nichts. Vielleicht ist das besser so.