Robert Schumann als Student in Heidelberg


Fritz Stein

Zu seinem 100. Todestage am 25. Juli 1956

(aus: Ruperto-Carola. Mitteilungen der Vereinigung der Freunde der Studentenschaft der Universität Heidelberg e.V., 8. Jahrgang, Band 19, Juni 1956, hg. von Gerhard Hinz, S. 60 - 65, für das Portal abgeschrieben im Büro des StadtMuseums Bonn, 2006)

Der Dirigent, Musikpädagoge und Musikwissenschaftler Professor Dr. Fritz Stein beging im Dezember vorigen Jahres seinen 76. Geburtstag. Stein stammt aus Gerlachsheim/Baden, studierte in Heidelberg, Berlin und Leipzig Theologie und Musik und wurde 1906 als Universitätsmusikdirektor und Stadtorganist nach Jena berufen, wo er 1912 eine a. o. Professur für Musikwissenschaft erhielt. Nach dem ersten Weltkriege wurde er Organist an St. Nikolai und Universitätsmusikdirektor in Kiel, 1925 hier Städtischer Generalmusikdirektor und später Ordinarius für Musikwissenschaft. Auf Empfehlung von W. Furtwängler kam Stein schließlich nach Berlin als Direktor der Staatl. Hochschule für Musik, die er bis 1945 betreute. Als Musikhistoriker ist er vor allem mit einer großen Regerbiographie und mit zahlreichen Ausgaben alter Meister (Nic. Bruhns, H. Schütz, G. Ph. Telemann, Joh. Christ. Bach u. a.) hervorgetreten.

Professor Stein stellt uns freundlicherweise den nachstehenden Beitrag zur Verfügung, den er vor genau 50 Jahren als junger Student auf Wunsch seines Lehrers Philipp Wolfrum für das „Heidelberger Tageblatt“ schrieb. Da sein Erinnerungswert auch heute noch – nach einem halben Jahrhundert – der gleiche ist, dürfte sein Wiederabdruck zum 100. Todestage Robert Schumann, der in Heidelberg seine glücklichsten, romantisch verschwärmten Semester erlebte, den Schumann-Freunden nicht unwillkommen sein.

Ein goldener, ungetrübter Maientag waren in Robert Schumanns Leben die drei Semester, die er von Ostern 1829 bis Michaelis 1830 in Heidelberg verlebte, „verträumte und verspielte“. Und wo hätte der feurig-schwärmerische, schönheitsdurstige Jüngling glücklicher träumen und schwärmen können als gerade hier, in diesem sagenumwobenen „blühenden Paradiese“, in dieser eigentlichen „Heimat des Romantikers“? – Für Schumanns geistige Entwicklung wurde sein Heidelberger Aufenthalt von entscheidender Bedeutung, und es ist kein Zufall, daß gerade hier in ihm der Entschluß reifte, das ihm aufgezwungene, seine glühende Phantasie „eiskalt und trocken“ anmutende Brotstudium der Jurisprudenz abzuschütteln und sich mit stolzer Zuversicht dem hohen Beruf zu weihen, für den sein Genius ihn bestimmt hatte.

In seinen beiden ersten Semestern „studierte“ Schumann in Leipzig, d. h. er schwänzte mit Beharrlichkeit die juristischen Kollegien, spielte um so leidenschaftlicher Klavier, schwelgte mit gleichgesinnten Freunden in seinem „einzigen Schubert“ und im schwärmerisch verehrten Jean Paul und gab sich rückhaltlos den neuen musikalischen Genüssen der „Großstadt“ hin. Aber so mannigfach die künstlerischen und gesellschaftlichen Anregungen waren, die der angehende Kunstjünger hier empfing, so wenig konnten den naturbegeisterten Schwärmer die dürftigen landschaftlichen Reize des „flachen“ Leipzig fesseln, und bald sehnt er sich heraus aus dem „infamen Nest“. Bereits in der ersten Leipziger Zeit faßt er den Entschluß, so bald wie möglich nach Heidelberg überzusiedeln, und schon das ganze Jahr vorher träumt er vom dortigen „Blütenleben“, von dem „Frühling, der ihm entgegenlächelt“, phantasiert er von den „Wein- und Wonnebergen“, die seiner warten. So schreibt er im November 1828 an seinen Freund Rosen: „Ein entzückender und belebender Gedanke ist es mir seit Tag und Jahr, zu Ostern nach Heidelberg gehen zu können; alle Freudenhimmel des Wonnelebens liegen vor mir ausgebreitet, das große Faß und die kleinen Fässer, die heiteren Menschen, die nahe Schweiz, Italien, Frankreich und das ganze Leben dort, das ich mir mit feurigen Tizianstrichen vormale“. – Zu Ostern 1829 endlich sollte sich der Traum verwirklichen. Zwar wurde Schumann der Abschied von Leipzig zuletzt doch noch erschwert durch die schmerzliche Trennung von einem „liebenswürdigen Mädchen“, aber er riß sich los und am 29. April schreibt er an Rosen: „... jetzt ist alles vorbei, und ich stehe stark mit der unterdrückten Träne da und schaue hoffend und mutig in meine Heidelberger Blüten und Maiblumen. Das erste, was ich in Heidelberg suche, ist – eine Geliebte.“

Am 11. Mai trat der Student die Reise mit der Eilpost an, fand unterwegs Wilibald Alexis als willkommenen Reisegefährten, und nachdem er den neugewonnenen Freund noch ein Stück rheinabwärts begleitet hatte, kam er über Frankfurt, Darmstadt, Worms und Mannheim am Abend des 21. Mai „mit einem gemischten Gefühl von Freude und Wehmut“ in seinem ersehnten Heidelberg an und zog sofort zu seinem Freund, stud. jur. Rosen, zu Fuhrmann Panzer „am Berg“ in der Seminarstraße – das Haus stand auf der Stelle des heutigen Amtsgerichts – in eine „hohe Fürstenstube, das alte herrliche Bergschloß und die grünen Eichenberge vor sich“. Der Zauber unserer in ihrer ganzen Frühlingspracht sich darbietenden Stadt wirkte auf Schumanns empfängliches Gemüt überwältigend. Seine schönsten Träume wurden noch übertroffen, und selten hat er in so überschwenglich glücklicher Stimmung Briefe in die Heimat geschrieben wie in diesem Sommer. „Mein freundliches Heidelberg, wie bist du so schön und idyllisch-unschuldig; wenn ich den Rhein mit seinen Bergen der männlichen Schönheit vergleichen könnte, so das Neckartal der weiblichen; dort ist alles in starken, festen Ketten, altdeutschen Akkorden; hier alles in einer sanften, singenden, provenzialischen Tonart“. Selbst das verhaßte Jus scheint dem entzückenden Schwärmer in der ersten allgemeinen Begeisterung zu munden, wenn man seinem Bericht an die ängstliche Mutter Glauben schenken darf, an die er schreibt: „... ich bin fleißig und ordentlich. Das Jus schmeckt mir bei Thibaut und Mittermaier exzellent und ich fühle jetzt erst die wahre Würde der Jurisprudenz, wie sie alle heiligen Interessen der Menschheit fördert. Und Gott! Dieser Leipziger Professor, der wie ein Automat auf seiner Jakobleiter zum Ordinariat dastand und geist- und wortarm seine Paragraphen phlegmatisch ablas – und dieser Thibaut, der, obgleich noch einmal so alt wie jener, von Leben und Geist überfließt und kaum Zeit und Worte genug hat, seine Ideen auszusprechen“. Mag es Robert mit dieser Schilderung ernst gewesen sein oder nicht, jedenfalls hielt der wissenschaftliche Eifer nicht lange an. Nach den übereinstimmenden Berichten seiner Freunde nämlich besuchte er juristische Kollegien, die er überhaupt „nur für Esel“ nötig erachtete, so gut wie gar nicht. Nicht einmal ein Kollegienheft und ein juristisches Buch soll der „Rechtsbeflissene“ besessen haben, und nur mit unverhohlenem Widerwillen nahm er an der Unterhaltung über juristische Gegenstände teil. Allzuwörtlich darf man daher wohl auch den Stundenplan nicht nehmen, den der fleißige Sohn gelegentlich nach Hause meldet: „Um vier Uhr (!) steh‘ ich jeden Morgen auf, der Himmel ist zum Küssen blau, bis 8 Uhr arbeit‘ ich Pandekten und Privatrecht; von 8–10 spiel‘ ich Klavier; von 10–12 bei Thibaut und Mittermaier, von 12–2 Uhr geht’s in den Straßen spazieren und zum Essen; von 2–4 Uhr bei Zachariä und Johannsen; dann geht’s auf’s Schloß oder an den Rhein oder in meine geliebten Berge“. Glaubhafter klingt eine Mitteilung gegen Ende seines Heidelberger Aufenthalts: er sei in Heidelberg nie vor 1 Uhr zu Bett gekommen; denn mit seinem allnächtlichen Schwärmen und Phantasieren am Klavier war wohl das erwähnte Morgenstudium des „trockenen und ungenießbaren“ Jus kaum zu vereinigen. In Wahrheit bildete das Klavierspiel Schumanns Hauptbeschäftigung in Heidelberg, und sein Eifer hierin kannte keine Grenzen. Zu Zeiten studierte er die Nächte hindurch, und oft sahen ihn schon die frühesten Morgenstunden am Flügel. Wenn er seinen Freunden sagte: „Heute morgen habe ich sieben Stunden Klavier gespielt, ich werde heute abend gut spielen, wir müssen zusammenkommen“, dann wußten diese, welchen Genuß sie zu erwarten hatten. Bemerkenswert ist der Bericht von Schumanns musikalischem Intimus Töpken über diese musikalischen Zusammenkünfte: „Nach der gemeinschaftlichen Unterhaltung (meist mit 4händigen Stücken von Schubert) folgten dann in der Regel von seiner Seite freie Phantasien auf dem Klavier, in denen er alle Geister entfesselte. Ich gestehe, daß diese unmittelbaren musikalischen Ergüsse Schumanns mir immer einen Genuß gewährt haben, wie ich ihn später, so große Künstler ich auch gehört, in der Art nie wieder gehabt. Die Ideen strömten ihm zu in einer Fülle, die nie sich erschöpfte. Aus einem Gedanken, den er in allen Gestalten erscheinen ließ, quoll und sprudelte alles andere wie von selbst hervor, und hindurch zog sich der eigentümliche Geist in seiner Tiefe und mit allem Zauber der Poesie, zugleich schon mit den deutlich erkennbaren Grundzügen seines musikalischen Wesens, sowohl nach der Seite der energischen, urkräftigen, als der der duftig zarten, sinnend träumerischen Gedanken. Diese Abende, aus denen häufig Nacht wurde und die uns über die äußere Welt völlig weghoben, vergesse ich in meinem Leben nicht“. – Neben der Musik beschäftigte Schumann hauptsächlich das Studium der französischen und italienischen Sprache, auch besuchte er einige philosophische Kollegien. Den lärmenden, „faden“ Studentenvergnügungen konnte der in sich gekehrte Träumer keinen Geschmack abgewinnen, und von den Studentenverbindungen, die ihm in Heidelberg noch weniger gefielen als in Leipzig, wo er selbst eine Zeitlang aktiv war, hielt er sich nach dem Zeugnis seiner Freunde geflissentlich fern. Wenn er im folgenden Winter selbst einmal schreibt, er sei in der „Saxo-Borussia“ ein „kleiner flackernder Stern“, so bezog sich diese Bemerkung wohl lediglich auf seine Teilnahme an einigen Festlichkeiten der genannten Verbindung oder auf seinen Verkehr mit dem Preußensenior Anderson, der den musikalischen „Smollisbruder“ vielleicht manchmal mit auf die Borussenkneipe zur Bedienung der „Bierorgel“ geschleppt haben mag. – Im übrigen aber genoß Schumann auf seine eigene Art die Poesie des Heidelberger Studentenlebens in vollen Zügen. Fast täglich wurden mit den beiden vertrautesten Freunden Rosen und Semmel auf einem stets zu diesem Zweck bereitstehenden Einspänner Ausflüge in Heidelbergs Umgebung unternommen, an Sonntagen dehnte man diese fidelen Fahrten, auf denen Schumann während des Gesprächs jeweils auf einem stummen Reiseklavier Fingerübungen exerzierte, bis nach Darmstadt, Worms, Speyer, Karlsruhe, ja sogar bis Baden-Baden aus; man träumte und schwärmte in den Schloßruinen, trank „manche Bouteille Wein bei Herrn Lind oder Lauter, den Heidelberger Kunstmäzenen“, oder kneipte sich bei Champagner und Phantasien am Flügel in Schumanns Stube fest – kurz, unser Student lebte als flotter Bursche „in einem goldenen Schlaraffenleben“, brauchte sehr viel Geld, was „reißende Fortschritte machte, mehr als man in den Hörsälen machen kann“, saß fortwährend auf dem Trockenen und machte Schulden, die seine gute Stimmung wenig beeinträchtigten. Ergötzlich sind seine fast in jedem Brief wiederkehrenden humoristisch-verzweifelten Bitten um Geld, seine Jeremiaden über das teure Heidelberger Leben, in denen ganz horrende Schneiderrechnungen, merkwürdig hohe und öfters zu zahlende Kollegiengelder, und, was das allermerkwürdigste, - ein sehr teures „juristisches Repetitorium bei Prof. Johannsen“ immer an erster Stelle figurieren. Seinem pedantischen, um das schwindende Vermögen seines Pfleglings besorgten Vormund gegenüber wendet der bedrängte Studiosus alle erdenklichen Mittel an, um einen neuen Wechsel aus ihm herauszuschinden. Er jammert, er werde demnächst wegen schuldiger Kollegiengelder mit „Stadtarrest belegt“, er droht, bei einem Studentenpumpier könne er Geld geliehen bekommen, soviel er wolle, „freilich mit 10–12 Prozent, welches Mittel ich aber natürlich nur im äußersten Falle, d. h. wenn ich von zu Hause kein Reisegeld bekäme, ergreifen würde“; er klagt über die Prellereien der Heidelberger Geschäftsleute: „Das Schlimmste aber ist, daß hier alles teurer, feiner und nobler ist, weil hier der Student dominiert und eben deshalb geprellt wird. ... Glauben Sie mir gewiß, daß nie ein Student mehr braucht, als wenn er eben keinen Kreuzer in der Tasche hat, zumal in den kleinen Universitätsstädten, wo er so viel geborgt bekömmt, wie er nur will. ... Die Wirte schreiben dann mit doppelter Kreide und man muß mit Doppelkrontalern bezahlen.“

Nicht uninteressant sind die Schilderung, die der Neunzehnjährige von unserer Stadt und ihren Bewohnern überhaupt entwirft: „Das Leben hier ist angenehm und freundlich, obgleich nicht so großartig, großstädtisch und mannigfaltig wie das Leipziger. Den Heidelberger Studenten stellt man sich auch ganz falsch vor; er ist der ruhigste, etwas feine und kalt-zeremonielle Student, der den guten und eleganten Anstand oft affektiert, weil er seiner noch nicht mächtig sein kann. Der Student ist die erste und angesehenste Person in und um Heidelberg, welches einzig von ihm lebt; die Bürger und Philister sind natürlich übertrieben höflich.“ – Familienanschluß vermied Schumann in der ersten Zeit, obwohl er durch sein Klavierspiel bald bekannt und begehrt wurde. „Ich habe mich noch in keine Familie eingenistet, was besser für den Winter paßt und da leicht und angenehm ist, da doch auch hier Mädchen sind, die die Cour geschnitten haben wollen. So ist es auch etwas ganz Gewöhnliches, daß man Dutzende von Studenten als Bräutigame herumlaufen sieht und mit Einwilligung der Eltern; natürlich, die sentimentalen Mädchenherzen wollen auch lieben und heiraten, sehen aber niemanden als Studenten – und so sind Verlobungen an der Tagesordnung. Um mich brauchst Du keine Angst zu haben; kannst es auch schon daraus entnehmen, daß ich Dir dies alles so offen als wahr schreibe.“ Mit letzterer Versicherung hatte es seine Richtigkeit. Obwohl der leicht entzündbare Musikant mit der besten Absicht dazu im badischen „Paradies“ eingezogen war, so hat er sich doch hier nie ernstlich verliebt. Zwar war er gelegentlichen harmlosen romantischen Abenteuern nicht abgeneigt und noch später in Leipzig gedenkt er einer „kleinen, gar lieben Philippine mit dem Engelsköpfchen“, einer „kleinen kußlichten Gouvernante“ und verschiedener anderer kleiner „kußlichter“ Mädchen, aber zu einer tieferen Neigung ist es nicht gekommen. Den Heidelbergerinnen sei übrigens hier eine Kritik über ihre tanzenden Urgroßmütter nicht verschwiegen, die der ungalante Schumann gelegentlich eines Preußenballes nach Hause schreibt: „Die Zwickauerinnen tanzen göttlich gegen die Heidelbergerinnen, und ich mache Effekt mit meiner Gallopade, die sie mehr treten als tanzen, während die Zwickauerinnen geflügelt dahinschweben wie Musen oder andere Göttinnen oder Houris im Muhammedanischen Paradies, - Gott gebe, daß letztere dieses lesen möchten und erstere nicht.“
Nach glücklich durchschwärmtem Sommer nahten die Herbstferien heran, und nach langen diplomatischen Verhandlungen mit Mutter und Vormund gelang es Schumann, die Erlaubnis zur längst ersehnten Reise durch die Schweiz und Oberitalien zu erwirken, die bis auf die üblichen Geldverlegenheiten und eine peinliche Seekrankheit in ungetrübtem Genusse verlief. Am 20. Oktober kehrte er „um einige Napoleons ärmer, aber im inneren Herzen voll hoher, heiliger Erinnerungen“ nach Heidelberg zurück. Da ihm seine alte „vornehmhohe“ Wohnung samt der zänkischen Wirtin nicht mehr behagte, zog er aus und „nistete sich beim Kaufmann Ritzhaupt in der Hauptstraße in einem kleine, warmen Dichterstübchen ein“, das seinem „alten grünen in Zwickau frappant gleich ist“. „Um wieviel tausendmal wohler ich mich befinde, brauche ich Dir als Freundin kleiner Stübchen durchaus nicht zu sagen, noch weniger, wie oft ich in diesem mich nach Zwickau versetzt fühle und in meine kleine Heimat.“ Das Logis „ist vortrefflich niedlich; in der Schlafkammer immer Mond- und Sonnenschein, in der Arbeitsstube Schatten und Wärme“. Diese Wohnung, in der Schumann noch ein ganzes Jahr „so manche schöne, reine Stunde“ verlebte, ist noch erhalten im vormals Leopold Mayer’schen Haus, Hauptstraße 160, zwei Treppen hoch. Schumanns ehemaliges Wohnzimmer, wo er in stillen Nächten „den Neckar leis murmeln hörte“, liegt gerade der Dreikönigstraße gegenüber, die Schlafkammer nach dem Hof hinaus. Ein freundlicher Zufall hat es gefügt, daß die Schumann’sche Muse ein zweites Mal diese Räume weiht. Sie werden jetzt bewohnt von unserer Heidelberger Pianistin Fräulein Weinreiter, die, ohne bisher die Bedeutung dieses Ortes zu kennen, als begeisterte Interpretin Schumann’scher Kunst dem Andenken des verehrten Tondichters hier so manche Andachtsstunde widmete.

Im Winter 1829/30 ergab sich Schumann eifriger denn je seinen musikalischen Studien, und es konnte nicht ausbleiben, daß er durch sein virtuoses Klavierspiel und seine gelegentlichen Improvisationen Aufsehen erregte, zumal da hier die Musik sehr darniederlag und „an einen ordentlichen Klavierspieler nicht zu denken war.“ Seinem Leipziger Lehrer Fr. Wieck gibt Schumann einen bemerkenswerten und belustigenden Bericht über die Heidelberger musikalischen Verhältnisse: „Wie ich mir dachte, so traf es ein – im ganzen ist hier viel Liebe für die Musik, aber wenig Talent, hie und da eine altvätersche Kunstkritik, aber wenig aktive Genialität. ... Ohne mich im geringsten zu überschätzen, so bin ich mir meiner Überlegenheit über alle Heidelberger Klavierspieler recht gut und bescheiden bewußt. Sie haben keine Idee von der Liederlichkeit und Roheit des Vortrags und von dem Stechen, Wimmern und Poltern und der ganzen ungeheuren Mattigkeit ihres Spiels; an Anschlag und Ton und Gesang ist nicht zu denken und von Einstudieren, Fingerübungen und Tonleitern etc. haben sie in ihrem Leben nichts gehört.“ Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, daß Schumann binnen kurzem in den ersten musikalischen Kreisen der Stadt eingeführt war, von denen er u. a. erwähnt: die Familien Mittermaiers, Dr. Wüstenfelds, Prof. Morstadts, Engelmanns, Roßmäßlers. Tieferes Interesse konnte ihm aber nur Thibaut abgewinnen, in dessen wöchentlichen Aufführungen alter Kirchenmusik der werdende Musiker mannigfache Anregungen und bleibende Eindrücke empfing. Zwar kam es zu keinem intimeren musikalischen Verhältnis zwischen dem fortschrittsbegeisterten Brausekopf und dem streng konservativen Verfasser der „Reinheit der Tonkunst“, über dessen „Einseitigkeit und wahrhaft pedantische Ansicht über Musik bei dieser unendlichen Vielseitigkeit in der Jurisprudenz und bei diesem belebenden, entzündenden und zermalmenden Geiste“ sich jener gelegentlich bitter beklagte. Aber Schumann hat doch zeitlebens in dankbarer Verehrung für den geistvollen Gelehrten dieser schönen Abende gedacht, über die er an seine Mutter schreibt: „Thibaut ist ein herrlicher, göttlicher Mann, bei dem ich meine genußreichsten Stunden verlebe. Wenn er so ein „Händel’sches Oratorium bei sich singen läßt (jeden Donnerstag sind über 70 Sänger da) und so begeistert am Klavier akkompagniert und dann am Ende zwei große Tränen aus den schönen, großen Augen rollen, über denen ein schönes, silberweißes Haar steht, und dann so entzückt und heiter zu mir kommt und mir die Hand drückt und kein Wort spricht vor lauter Herz und Empfindung, so weiß ich oft nicht, wie ich Lump zu der Ehre komme, in einem solchen heiligen Hause zu sein und zu hören. Du hast kaum einen Begriff von seinem Witz, Scharfsinn, seiner Empfindung, dem reinen Kunstsinn, der Liebenswürdigkeit, ungeheuren Beredsamkeit, Umsicht in allem.“

Im Dezember 1829 berichtet Schumann stolz nach Hause: „Im großen erbärmlichen Heidelberger Konzert, zu dem jedoch meist königl. Hoheiten aus Mannheim oder Karlsruhe kommen, figurier ich als Solospieler.“ In der Tat war der junge Künstler in einem Konzert des „Museums“, eines meist aus Studenten gebildeten musikalischen Vereins, öffentlich aufgetreten und hatte sich mit den brillanten Alexandervariationen von Moscheles einen großen Erfolg erspielt. Das „Bravo- und Dacaporufen hatte kein Ende“, und es war dem Gefeierten „ordentlich siedend und schwül“ dabei. Sogar die verwitwete Großherzogin Stephanie von Baden „klatsche bedeutend“ und lud persönlich Schumann zu einem Konzert nach Mannheim ein. Es ist bezeichnend für Schumanns Bescheidenheit und Selbstkritik, daß er diese ehrenvolle Einladung sowohl wie andere auswärtige Konzertanerbieten ein für alle Mal ablehnte. Dieses erste Heidelberger Debut ist übrigens Schumanns einziges Auftreten als Solospieler vor der Öffentlichkeit geblieben, da kaum ein Jahr später die durch jenes unglückliche Experiment verursachte Lähmung einer Hand seinen Virtuosenabsichten ein für alle Mal ein jähes Ende bereitete.

Ein sehr bewegtes gesellschaftliches Leben war die natürliche Folge von Schumanns gelungenem Konzert. Man wetteiferte förmlich, den gefeierten „Liebling des Heidelberger Publikums“ bei sich zu sehen, fast jeder Abend sah ihn in Gesellschaften oder auf Bällen der ersten Familien, und allwöchentlich erhielt er Einladungen zu dem Zirkel der Großherzogin. – Zugleich nahm Schumann auch am studentischen Leben regeren Anteil, besuchte Kommerse und Maskenfeste und genoß die ihm neuen Vergnügungen des Heidelberger und Mannheimer Karnevals. Seinem Bruder berichtet er begeistert von den festlichen Schlitten-Maskeraden: „Jede Verbindung gab ihre eigenen. Die Hanseaten ließen z. B. Schiffe und Kähne auf Schlitten binden, alles prächtig dekorieren und führten eine reitende oder von Pferden gezogene, vollkommene Schiffahrt auf. Alles war verkleidet in Matrosentrachten etc. Eine andere Verbindung – wohl die Saxoborussen – gab eine fahrende Bauernhochzeit; ich stellte die Mutter der Braut vor und nahm mich gut aus nach allen Berichten Heidelberger Damen.“ Ein Ball „sämtlicher Preußen und Sachsen“, der „ein fatales Loch in seinen Beutel riß“, beschloß die Wintervergnügungen und Schumanns Heidelberger Gesellschaftsleben überhaupt. Seiner versonnenen, mehr zum Schwärmen in engstem Freundeskreis neigende Natur konnte auf die Dauer das „wüste Kommerstreiben“ ebensowenig zusagen wie das öde Einerlei der gesellschaftlichen Amüsements, und so zog er sich bald wieder von der Öffentlichkeit zurück, beschränkte sich auf den Verkehr mit wenigen intimen Freunden, unter denen der „innige und brüderliche Rosen“ ihm immer noch am nächsten stand, und lebte wieder ausschließlich seinen musikalischen Studien. Zu Ostern 1830 sollte Schumann nach Leipzig zurückkehren, um dort sein juristisches Studium zu beendigen, und nur mit Bangen sah er dem Abschied von Heidelberg entgegen, ratlos, wie er zu Hause Rechenschaft über sein vollständig vernachlässigtes Berufsstudium ablegen solle. Mit seinem längst im Stillen genährten, in Briefen gelegentlich auch wohl angedeuteten Herzenswunsch, sich ganz der Musik zu widmen, wagte er noch nicht hervorzutreten, da er die Besorgnisse und Einwände der ängstlichen Mutter nur zu genau kannte. Kein Wunder, daß er in diesem schlimmen Dilemma die Heimkehr möglichst hinauszuschieben suchte. Seine dringende Bitte, noch ein Semester in Heidelberg bleiben zu dürfen, wo der Aufenthalt „ungleich lehrreicher, nützlicher und interessanter sei als in dem flachen Leipzig“, wurde vom Vormund gewährt, und der Hocherfreute verlebt einen zweiten glücklichen Sommer in der geliebten Stadt. „Der ganze Frühling“, schreibt er über diese Zeit an seine Mutter, „wurde durch Nichts unterbrochen als hier und da durch eine Abendröte oder einen Nachtigallenschlag, oder durch eine neue Blüte, so ätherisch ruhte er über die ganze Zeit, daß Du nichts von mir gehört hast. ... Jetzt ist mein Leben stiller und einsamer. Der Frühling hat mich mit mir selber vereint und mich die Zeit schätzen und würdigen gelehrt, mit der man sonst wohl spielt. ... Ist Dir ein Bildchen meiner Lebenseinteilung nicht unlieb, so gebe ich es Dir gern. Nur die Jurisprudenz legt manchmal einen kleinen, frostigen Winterreif über meinen Morgen; sonst ist lauter Sonnenschein drinnen, und alles glänzt und blitzt, wie junge, frische Tauperlen auf Blumen. Die Götterjugend ruht nicht im Alter, sondern im Herzen, und die rechten Menschen sind ewig jung, wie Du und wie die Dichter. Meine Idylle ist einfach und zerfällt in Musik, Jurisprudenz und Poesie, und so sollte immer Poesie das praktische Leben einfassen wie das schöne, glänzende Gold den rohen, klaren, scharfen Diamanten.“ Schumann spricht hier vom juristischen Arbeiten, und tatsächlich scheint er zu Beginn des Semesters den verzweifelten Versuch gemacht zu haben, die versäumten Studien nachzuholen. Die Unmöglichkeit seines Beginnens sah er bald ein. Und als Thibaut selbst ihn zur Kunst hinwies und meinte, „der Himmel habe ihn zu keinem Amtmann geboren“, reifte in ihm langsam der Entschluß „umzusatteln“ und „lieber arm und glücklich in der Kunst, als arm und unglücklich im Jus zu werden“. Stolz fühlte er „schaffenden Geist in sich, so voll von lauter Musik und so recht erfüllt von nichts als Tönen“. Wie es in ihm „tobte und musizierte“, davon legt eine Reihe bereits in Heidelberg entstandener Kompositionen Zeugnis ab. Schon im Jahre 1829 wurden Symphonieanfänge, Etuden und kleine Klavierstücke versucht, von denen einige in die später erschienenen Papillons aufgenommen sind, und noch in die Heidelberger Zeit fallen die Anfänge eines Klavierkonzertes, eine Toccata in D-Dur und die Abegg-Variationen, zu welchen Schumann durch den musikalischen Namen der Meta Abegg, einer schönen Mannheimer Beamtentochter, angeregt wurde.
Ein Konzert Paganini’s, den der begeisterte Heidelberger Student in diesem Sommer in Frankfurt hörte, scheint zu Schumanns Entschluß, die Virtuosenlaufbahn zu ergreifen, den ersten Anstoß gegeben zu haben. Ende Juli hatte er sich entschieden und teilte der bestürzten Mutter seine Absicht mit, sich bei Fr. Wieck in Leipzig zum Klaviervirtuosen auszubilden. Nachdem Wiecks Urteil zu seinen Gunsten ausgefallen war, konnte die Mutter ihre Zustimmung nicht mehr versagen. Schumanns Glück über diesen unerwartet glücklichen Ausgang kannte keine Grenzen. Kaum konnte er den Tag der Abreise erwarten, die sich bis Ende September verzögerte, da der Wechsel zur Begleichung der zahlreichen Schulden erst spät eintraf.

Der ersehnte Abschied von unserer Stadt, wo er „so viele herrliche Träume und ein ganzes Paradies von Natur“ zurückließ, sollte dem Scheidenden doch schwer werden: „Am 24. früh des Morgens hab‘ ich von Heidelberg Abschied genommen; es lag in tiefem Nebel gehüllt vor mir, wie mein Herz in dieser Minute, die mich von vielen Menschen vielleicht auf ewig trennt. Wie dann das Dampfboot immer schneller fortflog und Mannheim hinter Bäumen verschwand, da war’s als wendete sich mein Genius und als sagte er mir: die Blumen verblühen.“

Ziel- und planlos, ein sorglos-glücklich schwärmender Jüngling voll unbestimmt träumender Zukunftshoffnungen war Robert Schumann anderthalb Jahre zuvor in Heidelberg eingezogen, - klar das vorgesteckte Lebensziel vor dem leuchten Blick, „mit starken Vorsätzen und feurigem Willen“ verließ der nunmehr Zwanzigjährige unsere Stadt, in der er sich selbst gefunden, im Herzen das hohe und heilige Glücksgefühl, das der unerschütterliche Glaube an den Genius in der eigenen Brust verleiht. „Nehmen Sie meine Hand“, schreibt er in diesem überschwänglichen Glücksgefühl an Wieck, „und führen Sie mich – ich folge, wohin Sie wollen und will auch nie die Binde vom Auge rücken, damit es nicht vom Glanz geblendet werde. Ich wollte, Sie könnten jetzt in mich sehen; es ist still drinnen, und um das ganze Welthaupt geht ein leiser, lichter Morgenduft. Vertrauen Sie denn auf mich, ich will den Namen, Ihr Schüler zu sein, verdienen. Ach! warum ist man denn manchmal so selig auf der Welt? Ich weiß es.“