Robert Schumann als Operncomponist

v. Eduard Hanslick (1877)


Genovefa, die einzige Operncomposition von Schumann, erschien bekanntlich zuerst (1850) auf der Leipziger Bühne. Sie brachte es da, trotz Schumann´s persönlicher Anwesenheit, nothdürftig auf drei Vorstellungen; hierauf verflossen (wenn wir von der exclusiven Versuchsstation Weimar absehen) lange Jahre, ohne daß irgendwo davon die Rede war. In dem Maße als die letzten zwanzig Jahre die Würdigung Schumann´s allenthalben verbreitet und erhöht haben, erwachte auch wieder die Begierde der Musikfreunde, diese Oper kennen zu lernen; Karlsruhe und München machten jüngst einen Versuch damit, welcher nicht eben ermuthigend ausfiel. Zuletzt ging Director Herbeck in Wien an das gleiche Werk und tilgte so in ehrenvollster Weise eine doppelte Schuld: an Schumann und an das für diesen Tondichter enthusiastisch eingenommene Wiener Publicum. Letzteres hörte die erste Vorstellung mit pietätvoller Andacht und Aufmerksamkeit; von der zweiten an begann es in bedenklicher Weise auszubleiben. Genovefa selbst erregt unser Interesse nicht blos als ein eigenthümliches, mit liebevoller Hingebung geschaffenes Werk Schumann´s, sie predigt auch, durch ihr unglückliches Bühnenschicksal, sehr heilsame Lehren für unsere lebenden deutschen Operncomponisten.

Aus einem ganzen Haufen von projectierten Opernstoffen hatte Schumann gerade einen der unpraktischsten zur wirklichen Ausführung gewählt: die Genovefa. Das entsprach dem Romantiker in Schumann; deutsch-mittelalterliches Wesen, christliche Frömmigkeit, mystische Wunder, endlich sogar Anklänge an´s Volkslied - alle vier Elemente der deutschen Romantik treffen hier zusammen. "Nach Tieck und Hebbel," heißt es auf dem Titelblatt des Textbuche; thatsächlich hielt sich Schumann ungleich weniger an Tieck´s Gedicht, als an Hebbel´s Drama, dem nicht nur im Allgemeinen die Disposition (natürlich mit den von Hebbel später zugefügten glücklichen Ausgang), sondern auch zahlreiche Textstellen wörtlich entnommen sind - nicht zum Vortheil der Oper, welche mehr musikalisches Element in Tieck´s Genovefa vorgefunden hätte. Welch´ schönes Motiv liegt nicht in jenem Trauerlied unglücklicher Liebe: "Dicht von Felsen eingeschlossen", welches bei Tieck gleich anfangs von zwei Hirten dem Golo vorgesungen wird und prophetisch sein Schicksal verkündet, in durch alle Stadien seiner bis zur Raserei auflodernden Leidenschaft begleitet bis zu seinem versöhnenden Tode. Schumann mochte sich vor der Banalität des "rothen Fadens" gescheut haben; aber es kommt doch sehr viel darauf an, von wem und aus welchem Musikstoff solcher Faden gesponnen wird. Begreiflicherweise fiel der Bühnenrücksicht auch zum Opfer, was an der Genovefa-Legende das Rührendste und Poetischste ist: der Aufenthalt der von den Mördern verschonten Genovefa in tiefer Waldeinsamkeit, wo sie sieben Jahre lang mit dem kleinen Schmerzenreich und der Hirschkuh lebt, bis ihr von Reue und Schwermuth gefolterter Gemahl auf einer Jagd zufällig die Todtgeglaubte entdeckt und überglücklich auf sein Schloß zurückführt.

Schumann´s Textbuch ist dürftig und interesselos, namentlich in der Charakteristik der Hauptpersonen; ohne die scharfe psychologische Motivierung Hebbel´s wird hier Golo zum gewöhnlichen Theaterschuft, Genovefa zur langweiligsten Dulderin, Graf Siegfried zum Schwachkopf. Tieck´s alte Versucherin Gertrud und Hebbel´s böses Schwesternpaar hat Schumann in Eine Solohexe, Margarethem zusammengeschmolzen, die sich nicht merklich von ihren zahlreichen Operncolleginnen unterscheidet. Widerwärtige Vorgänge aus Hebbel´s Drama wiederholen sich genau in der Oper mit noch abstoßenderer Wirkung, z.B. die Scene, wo das Burggesindel in Genovefa´s Schlafzimmer dringt, den unschuldigen alten Drago herauszerrt und tödtet, schließlich die Pfalzgräfin unter wüstem Halloh davonschleppt. Die Lösung ist gewaltsam überstürzt: kaum hat Siegfried den Golo zur Tödtung Genovefas´s abgeschickt, als er auch schon, geführt von der reumüthigen Hexe, im Walde ankommt, um Genovefa zu retten. Mit diesem Wiederfinden im Walde - wir müssen lange genug darin verweilen - könnte die Oper füglich schließen; aber die Scene wird nochmals verwandelt, um die Ankunft der Geretteten auf der Burg unter Choralklängen und Glockenläuten zu feiern.

Zu diesem Textbuche hat Schumann eine Musik geschrieben, die, von keuscher Empfindung durchdrungen, von edlem Ausdruck getragen, vor Allem danach strebt, mit unbestechlicher treue das Wort des Dichters zu interpretiren. Leider krankt seine Musik an dem einen unheilbaren Uebel, undramatisch zu sein. Schumann´s ganze Natur, auf ein tief innerliches Arbeiten und ein höchst subjectives, bis zur Grübelei verfeinertes Empfinden gestellt, war undramatisch, unfähig, sich an die Charaktere eines Dramas so zu entäußern, daß diese als lebendige, scharf ausgeprägte Personen vor uns stehen und gehen. Alle Charaktere in der Genovefa und deren verschiedenste Seelenzustände erblicken wir gleichmäßig gefärbt durch das Prisma der Schumann´schen Subjectivität. Nehmen wir beispielsweise Golo heraus, die treibende Kraft des Ganzen. Wie ärmlich flackert in seinem Gesang die Liebesgluth, die in heller Lohe anschlagen soll! Mit welcher matten Beschaulichkeit raubt er der schlafenden Genovefa den Kuß - bei Hebbel eine Scene von so glühender Sinnlichkeit, daß die Luft wie vom Samum zu erzittern scheint. Nun hat Golo mit Genovefa noch zwei Duette (im zweiten und im vierten Act), die jedem echt dramatischen Componisten die feurigsten Melodieen abgepreßt und ihn außerdem gedrängt hätten, beide Scenen durch außerordentliche Steigerung und charakteristischen Gegensatz auseinanderzuhalten, Bei Schumann erscheint die erste kühne Liebeswerbung Golo´s und seine verzweifelte letzte in demselben trüben Dämmerlicht und declammatorischen Zickzack. Es ließen sich ohne Schaden ganz lange Stellen aus Golo´s oder Siegfried´s Rolle in jene Genovefa´s übertragen und umgekehrt, so gleichmäßig ist die Behandlung. Man hört diesen Mangel meistens durch den Ausspruch erklären, die Musik zur Genovefa sei zu lyrisch. Mehr lyrisch als dramatisch ist sie jedenfalls, aber für meine Empfindung nicht einmal lyrisch genug, d.h. nicht hinreichend volles und starkes Aussprechen des subjektiven Gefühls. Sie hat vielmehr einen stark epischen Charakter und klingt nicht wie das unmittelbare Erlebnis und Geständnis Golo´s, Siegfried´s, Genovefa´s, sondern ungefähr als wenn ein Erzähler diese Vorgänge schildern würde. Es ist derselbe Gesangsstil, in welchem in der Peri oder Pilgerfahrt erzählt wird. Dieser am unrechten Ort eingenistete epische Ton ist die Ursache, warum wir in Schumann´s Genovefa fast nirgends die volle Anschaulichkeit eines Vorganges, nirgends die niederzwingende Kraft der Leidenschaft erleben. Die Personen dieser Oper haben alle etwas eigenthümliche Gebundenes, Verhaltenes; ihr Gesang überzeugt uns nicht, es ist, als suchten sie ihre Freude und ihren Schmerz sich erst einzureden und anzusingen.

Auf Schumann´s Genovefa paßt ein Bild, das einmal Otto Ludwig in seiner Beurtheilung eines Hebbel´schen Dramas gebraucht: "Wie eine Lavafluth schwerfällig unter der im Laufe zu Schlackenmassen gerinnenden Decke wälzt das Stück sich fort: immer gerinnt die Handlung unterwegs zur Erzählung". In der Behandlung ist nichts ausgespart; kein Anwachsen, keine Unterordnung, keine Beschleunigung. Und doch schrieb Schumann in wunderlicher Selbsttäuschung an einen Freund, in seiner Genovefa sei "jeder Tact durch und durch dramatisch". In wörtlichem Sinne mag man das gelten lassen; jeder Tact für sich allein ist allenfalls dramatisch, könnte es wenigstens sein in anderer Umgebung, aber der einzelne Tact verschwindet in dem Eindruck des ganzen Musikstückes, des ganzen Actes, der ganzen Oper. Der einzelne Tact! Das ist bei Schumann ein feiner Strich in einem Aquarellbild; man füge derer noch so viele säuberlich aneinander, sie bleiben wirkungslos dort, wo al fresco gemalt werden muß.

Treten wir näher an die einzelnen musikalischen Factoren der Genovefa-Musik, so gewahren wir an der Melodie fast durchweg den Mangel an Plastik. Die gesungenen Töne krystallisiren sich nicht zu einer festen, dem Hörer sich einprägenden Gestalt. Man weiß aus "der Rose Pilgerfahrt" und anderen Schumann´schen Cantaten, wie sehr das ununterbrochene Geriesel eines halb recitativischen, halb melodiösen Arioso den Hörer erschlafft; in der Oper wird diese Wirkung noch fühlbarer als im Concertsaal. Noch auffallender ist die Dürftigkeit der Rhythmen. Wo man die Partitur aufschlägt, erblickt man in den Singstimmen Reihenfolgen von gleichen oder gleichmäßigen getheilten Notenwerthen, meistens Viertel; schon der äußere Anblick befremdet durch den Mangel an wechselnden Notengruppen und rhythmischen Contrasten. Mit Ausnahme des flüchtig hereindringenden Trinkchors im zweiten Act ist Siegfried´s Arie: "Nun blicke ich wieder" das einzige Stück von lebhaftem, markierten Rhythmus. Auch dieses hat, wie die meisten Musikstücke der Oper, keinen förmlichen Abschluß; sie endigen fast alle tonlos abbrechend auf tieferen Noten, oft auf dem Dominantaccord, als verschwinde der Sänger unversehens in einer Falte des weit aufgebauschten Orchesters. Letzteres herrscht allenthalben vor und erstickt durch seine wogende Unruhe die feine Malerei des "einzelnen Tacts". Wir sind heutzutage an das zudringlichste Orchester gewöhnt und befreunden uns damit, wenn es nur Licht und Schatten weise vertheilt; Schumann´s Orchester verbreitet aber einen gleichmäßig fahlen Nebel, der, bald leichter, bald dichter, doch nur selten ganz freien Ausblick gestattet. Daß Schumann vorwiegend gewöhnt war, instrumental, in absoluter Musik, zu denken, verrathen auch die Gesangspartien in der Genovefa, welche vom Text abgezogen, oft klingen wie Stücke aus einem Quartett oder einer Symphonie. Das werthvollste Stück der Oper ist auch dasjenige, was mit der Scene gar nichts zu thun hat: die Ouvertüre. Unter den Gesangsnummern geben wir dem zweistimmigen Volkslied: "Wenn ich ein Vöglein wär" unbedenklich den Preis. Wie wohlthuend wirkt dieser herzliche, ungekünstelte Gesang! Ein so rein und schön musikalischer Moment wie dieser kommt in der Genovefa kein zweites Mal vor. Gleich darauf ist die Arie Siegfried´s zu nennen, in welcher ein fröhliches, warmes Blut pulsiert. Außerdem dürfte nur noch der erste Kreuzfahrerchor und Einiges aus der Hexenscene im dritten Act an Schumann´s beste Zeit erinnern. Bei aller Verehrung für Schumann kann ich dem Urtheil seines Biographen Wasielewski nicht beistimmen, daß die Musik zur Genovefa "einen seltenen Reichthum an schöpferischer Kraft offenbart."Ich finde in diesem Werke, ganz abgesehen von seinen dramatischen oder undramatischen Eigenschaften, ein entschiedenes Erlahmen der schöpferischen Kraft und kann dasselbe als rein musikalische Erfindung in keinem Betracht seinen früher erschienen herrlichen Quartetten, Symphonien, Clavierstücken und Liedern gleichstellen. Wäre Genovefa blos undramatisch, aber sonst mit dem ganzen zauberischen Reichthum Schumann´scher Erfindung ausgestattet, sie würde, wenn nicht auf allen Bühnen, doch gewiß in jedem Concertsaal, in jedem Hause gesungen werden. Aber Genovefa trägt schon merklich die grübelnden, zerstreuten, gramseligen Züge von Schumann´s dritter Periode; bis in das Detail der überwuchernden Vorhalte, Synkopen, Orgelpunkte und der kraftlos gewordenen Rhythmik und Melodik lassen sie sich nachweisen. Freilich auch daneben eine Unzahl kleiner genialer Charakterzüge, die aber in der Partitur meist wirkungslos verathmen. Während die Opern von specifisch dramatischen Talenten und häufig bei der Aufführung durch Effecte überraschen, welche man aus den Noten kaum prophezeit hätte, verspricht die Partitur der Genovefa hie und da Wirkungen, die dann thatsächlich ausbleiben. So dachte ich mir, um nur ein Beispiel anzuführen, den Kriegerchor "Karl Martell" im ersten Act als eine effectvollere Nummer; aber durch die anhaltend tiefe Lage der Tenorstimmen verblaßt das Ganze wirkungslos. Unzählige kleine Intentionen mögen in dieser Partitur stecken, aber sie kommen nicht heraus. Wie viele französische und italienische Operncomponisten, die künstlerisch tief unter Schumann stehen, schreiben bessere Opern! Was sie hinschreiben und beabsichtigen, das kommt eben auch heraus.

Ein besonders kunsthistorisches Interesse erregt Schumann´s Genovefa durch ihren Zusammenhang mit Richard Wagner´s Principien. Daß Schumann, abgesehen von dieser alleinigen Ausnahme, nicht den Zukunftsmusikern beizuzählen sei (wie ich vor zwanzig Jahren so oft zu beweisen veranlaßt war), das ist wol heute, wo seine Instrumentalwerke so wie seine Aussprüche gegen Programmmusik etc. allgemein verbreitet sind, als angenommen zu betrachten. Allein in der Genovefa gravitirt er unverkennbar gegen Wagner hin: durch den declamatorischen Charakter des Gesanges, durch die Auflösung der traditionellen festen Musikformen, endlich durch die selbstständige Führung des Orchesters. In allen diesen Punkten geht Genovefa in ihrer Art einen Schritt weiter als "Tannhäuser", aber lange nicht so weit wie "Tristan" oder "die Meistersinger". Dieses Zusammentreffen ist kein zufälliges oder rein ideeles; eine directe Einwirkung Wagner´sche Musik hat mindestens beigetragen. Lebhaft erinnere ich mich des Abends, wo ich im Sommer 1846 mit Schumann und seiner Frau den Tannhäuser unter Richard Wagner´s Leitung im Dresdener Hoftheater hörte. Schumann, den ich Tags vorher bei der Lectüre der Tannhäuser-Partitur angetroffen, verfolgte die Aufführung mit gespannter Aufmerksamkeit, fand zwar die Musik hin und wieder "gering" oder "gemein", lobte aber mit Wärme die Behandlung des Dramatischen. Gerade zwei Jahre später (August 1848) vollendete er seine Genovefa. Die fundamentale Verschiedenheit seiner Begabung von jener Wagner´s schien ihm somit nicht allzusehr aufzufallen und doch muß jeder Unbefangene nach den ersten Nummern des Tannhäuser und der Genovefa im Klaren darüber sein, daß Wagner ein eminent dramatisches Talent ist und Schumann das Gegenteil. Man kann ein genialer Tondichter sein und doch für die Bühne nicht zu schreiben verstehen. (...)