Rezension von Irmgard Knechtges-Obrecht zu Schumanns Dichterliebe von Randalu

Der aus der estnischen Hauptstadt Tallinn stammende Komponist und Pianist und Kristjan Randalu aktualisiert Robert Schumanns berühmten, auf Heinrich Heines Texten basierenden Liederzyklus »Dichterliebe« op. 48 unter den Bedingungen der heutigen pianistischen Bandbreite und Vorstellungswelt. Er folgt damit dem inzwischen oft praktizierten Verjazzen klassischer Musik. Das weite Feld dieser Möglichkeiten will dabei behutsam und mit Bedacht umgesetzt wer- den. Was sich Kristjan Randalu hier als Vorlage ausgesucht hat, liegt dem Jazz nicht unbedingt nahe. Schumanns Vertonung von Heines Gedichten bietet Melodien und Worte, die vermutlich vielen Menschen präsent sind. Heinrich Heine – bzw. dessen Texte – fällt in dieser Version für Klavier komplett weg. Schumanns Musik wird zwar nicht gestrichen, aber doch stark verändert. Was also bleibt von den altbekannten Weisen, die wir im Ohr haben?

Während es zunächst so wirkt, als würde Kristjan Randalu an die Tradition großer Pianisten des 19. Jahrhunderts anknüpfen, die insbesondere Lieder von Schubert und Schumann als Vorlage für ihre brillanten Klavier-Paraphrasen nutzten, wird dann rasch hörbar, dass der Ansatz hier ein völlig anderer ist. Randalu geht mit seiner eigenwilligen und modernen Tonsprache weit über traditionelle Bearbeitungen hinaus. Von der klassischen Klaviertranskription distanziert er sich sogar ausdrücklich. Daher empfindet man seine Musik auch wesentlich stärker als echte Neuschöpfung. Randalu legt Wert auf einen breit gesteckten Rahmen für freie Ansätze, in dem er seine Ideen konkretisiert, auf Notenpapier fixiert und schließlich weiter ausarbeitet.

In jedem Fall sind Improvisierkunst und Einfühlungsvermögen des Jazzmusikers gefragt sowie ein geschicktes Lavieren zwischen künstlerischer Freiheit und Werktreue. Randalu hat Erfahrung mit derlei Unterfangen, das spürt man in jedem Ton. Äußerst geschickt kreiert er zwar keinen tatsächlich neuen, aber doch neuartig wirkenden Notentext, dem man auch ohne ihn zu lesen beim reinen Hören gut folgen kann, wenn man sich darauf einlässt. Denn nicht jeder Hörerin und jedem Hörer gefallen derartige „Re-Kompositionen“. Spannend, mitreißend und schwungvoll wirken Randalus Bearbeitungen, deren Methodik vom schlichten Umspielen bis hin zur Virtuosität in Free Jazz-Attitüde reicht. Der Pianist hat sich seit vielen Jahren intensiv mit den 16 Liedern aus Schumanns »Dichterliebe« auseinandergesetzt, was seinen hier vorgelegten Versionen zu Gute kommt. Für deren Entwicklung ließ er sich meist durch bestimmte melodische, harmonische und rhythmische Elemente aus Schumanns Liederzyklus lenken. Die dort auffallende überaus virtuose Ausgestaltung des Klavierparts, auch dessen hohe Bedeutung und der Singstimme ebenbürtige Gewichtung nimmt Randalu als Basis dafür, seine Schöpfungen besonders kreativ, stellenweise regelrecht überraschend auszufeilen. Neben einem hohen Maß an improvisatorischer Freiheit, Spielfreude, Spontaneität und einem ebenso nuancenreichen wie breitem Spektrum an Jazz-Elementen bleiben die entscheidenden thematischen Stränge aus Schumanns Vorlage meistens erkennbar. Rein äußerlich fällt zunächst auf, dass einige Stücke auf der CD deutlich länger sind als die entsprechenden Lieder der »Dichterliebe«.

Insgesamt eine interessante, erfrischende und ungewöhnliche Interpretation von Schumanns »Dichterliebe«, die durchaus einleuchtet, auch ohne Text und Singstimme. (Irmgard Knechtges-Obrecht)

Schumanns Dichterliebe von Randalu [PDF]