Robert Schumann op. 115
Manfred nach Lord Byron op. 115
Ouvertüre für großes Orchester
Dramatisches Gedicht in drei Abteilungen mit Musik
Ouvertüre. Rasch – Langsam
I. Abteilung
1. Gesang der Geister. „Dein Gebot zieht mich heraus“ (SATB)
2. Erscheinung eines Zauberbildes. „O Gott, ist's so, wenn du nicht Wahnbild“
3. Geisterbannfluch. „Wenn der Mond auf stiller Welle“ (Vier Bass-Stimmen)
4. Alpenkruhreigen. „Horch, der Ton!“
II. Abteilung
5. Zwischenaktmusik. Mässig
6. Rufung der Alpenfee. „Du schöner Geist mit deinem Haar“
7. Hymnus der Geister Ariman's. „Heil unsrem Meister!“ (Chor)
8. Chor. „Wirf in den Staub dich“
9. Chor. „Zermalmt den Wurm“
10. Beschwörung der Astarte. „Schatten! Geist! Was immer du seist“
11. Manfreds Ansprache an Astarte. „O höre, hör' mich. Astarte!“
III. Abteilung
12. „Ein Friede kam auf mich“
13. Abschied von der Sonne. „Glorreiche Scheibe“
14. „Blick' nur hierher“
15. Schluss-Szene. Klostergesang. „Requiem aeternam“ (Chor)
„Wir haben gestern die Ouvertüre zu Manfred probirt; meine alte Liebe zur Dichtung ist dadurch wieder wach geworden. Wie schön, wenn wir das gewaltige Zeugniß höchster Dichterkraft den Menschen vorführen könnten! Sie gaben mir Hoffnung dazu; haben Sie einmal wieder darüber nachgedacht? [...] Das Ganze müßte man dem Publikum nicht als Oper oder Singspiel oder Melodram, sondern als ,dramatisches Gedicht mit Musik' ankündigen. – Es wäre etwas ganz Neues und Unerhörtes.“ So schreibt Schumann im November 1851 an Franz Liszt hinsichtlich einer geplanten Aufführung seines Manfred in Weimar und umreißt damit das wohl auffälligste Moment dieses Werkes: Vereint doch Manfred dramatische und oratorische Elemente gleichermaßen. Und gerade in jener auf solche Weise verunklarten Position zwischen den Gattungen liegt die Faszination. Die dramatische Handlung muss als inneres Theater, gleichzeitig aber ohne Theatralik veranschaulicht werden. Vermeintlich ein Widerspruch, den Schumann mit seinem Werk bewusst aufwirft, um ihn dann gerade in und mit diesem Werk zu lösen. Er geht dabei auf ebenso interessante wie für die damalige Zeit progressive Weise vor. Indem er stellenweise eine verbindliche Art der Deklamation in der Partitur festlegt, unterwirft er den Dramentext musikalischen Parametern. Einerseits hat sich die Manfred-Musik zwar von der Pragmatik des Theaters entfernt, dennoch kann man sie andererseits nicht als Schauspielmusik im herkömmlichen Sinne bezeichnen.
Als junger Jurastudent in Leipzig las Schumann das 1817 entstandene Drama Manfred von George Gordon Noël Lord Byron (1788-1824), dessen Werke von starker Ablehnung althergebrachter Strukturen leben. Byrons Helden sind – vielleicht als Projektion oder Inszenierung seiner selbst – intelligent, mutig und leidenschaftlich, jedoch gleichermaßen rastlos, verletzbar und einsam. Zufriedenheit und Glück bleiben ihnen letztlich versagt. Wie viele seiner Zeitgenossen, so war auch Schumann von den Werken dieses ebenso genialen wie exzentrischen Autors beeindruckt, ja geradezu von einem „Byron-Fieber“ erfasst. Im Sommer des Revolutionsjahres 1848 beschäftigt er sich erneut mit dem Drama Manfred, jetzt in Gestalt der 1839 erschienenen Übersetzung des Theologen Karl Adolf Suckow, der unter dem Pseudonym Posgaru publizierte. Schumann ist von der Lektüre so gefesselt, dass er unmittelbar danach eine Vertonung skizziert. „Robert hat sich das Gedicht nach seinen Gedanken arrangiert, um es für die Bühne wirksam zu machen [...] Seine Ouvertüre, die bereits beendet ist, scheint mir eins der poetischsten und fast ergreifendsten Stücke Roberts“. Auch Schumann hält die Ouvertüre für eines seiner „kräftigsten Kinder“.
Drei Jahre später, am 31. Oktober 1851, probt der inzwischen als Musikdirektor in Düsseldorf wirkende Schumann mit dem seiner Leitung unterstellten Allge¬meinen Musikverein erstmals die Ouvertüre, wovon er in dem eingangs zitier¬ten Brief berichtet. Am 14. März 1852 dirigiert er im Leipziger Gewandhaus die erfolgreiche Uraufführung der Ouvertüre, die beim Publikum, in dessen Reihen sich aus gutem Grund auch Liszt befand, einen positiven Eindruck hinterlässt. Nach längeren Verhandlungen findet schließlich am 13. Juni 1852 im Weimarer Hoftheater unter der musikalischen Leitung von Franz Liszt die Erstaufführung des gesamten Dramatischen Gedichts op. 115 statt. Weder an dieser, noch an der zweiten Aufführung am 17. Juni kann Schumann seines schlechten Gesundheitszustands wegen teilnehmen.
Wenngleich die Manfred-Musik auch in der Folgezeit einige Male in szenischer Umsetzung präsentiert wurde, überwiegt doch deren konzertante Darbietungs¬form. Insgesamt schwankt die Rezeption des Werkes von jeher zwischen be¬geisterter Annahme und wohlwollender Kritik, die hauptsächlich dessen Büh¬nenwirksamkeit in Frage stellt. Nur die Ouvertüre kann sich ihren festen Platz im Konzertrepertoire sichern. Obwohl sie sich durchaus als selbstständige Orchesterkomposition erschließt, oft sogar für das vollständige Werk gehalten wird, gehört sie inhaltlich eng zum nachfolgenden Melodram. Musikalisch entwickeln sich hier die beiden ausschlaggebenden Charakterzüge des Protagonisten Manfred. Byron verarbeitet in seinem kühn formulierten Drama autobiographische Erlebnisse, die ihm wegen der letztlich unter dem Druck der Öffentlichkeit aufgegebenen Ehe mit seiner Halbschwester Augusta widerfuhren. Zur Tragik dieser Liebesbeziehung traten finanzielle und gesellschaftliche Schwierigkeiten, die Byron schließlich zwangen, England für immer zu verlassen. Mit diesen Erfahrungen verbindet er Eindrücke, die er während einer 1816 unternommenen Alpenreise gewinnt. Obwohl es an keiner Stelle dezidiert Erwähnung findet, scheint eindeutig, dass die in seinem Stück beschriebene tragische Liebe Manfreds zu Astarte ebenfalls inzestuös ist. Nachdem Astarte auf Grund dieser mysteriösen Beziehung in den Tod getrieben wird, flüchtet Manfred schuldbeladen in die Einsamkeit seines Bergschlosses und quält sich, innerlich zerrissen und zur Ruhelosigkeit verdammt. Rettung sucht er erfolglos durch Kontakte zur irrationalen Welt der Geister. Ein trotziges Sich-Aufbäumen gegen das Schicksal wechselt mit tragischer Resignation ab. Gerade diese Pole setzte Schumann in der Ouvertüre musikalisch durch auffallend schroffe Kontraste um.
Drei mächtigen, synkopierten Akkorden des vollen Orchesters folgt eine Generalpause, dann entwickelt sich jene typische Manfred-Atmosphäre. Schon bald leitet ein durch Synkopen prägnant gestaltetes, von lang gezogenen, chromatischen Linien begleitetes Motiv zum eigentlichen Hauptteil der Ouvertüre über. Im folgenden Abschnitt emanzipiert sich das Synkopenmotiv zum energischen Hauptthema. Sämtliche weiteren thematischen Bildungen lassen sich substan¬ziell entweder auf dieses dominierende Thema oder das motivische Material der langsamen Einleitung zurückführen. Eine Durchführung im klassischen Sin¬ne fehlt, doch ein Mittelteil ist durch drei gehaltene Akkorde der Trompeten deutlich abgetrennt. Eine Art „Reprise“ vollzieht sich unter leichter Straffung, in modulatorischer Hinsicht erfolgt jetzt kein vorwärts gerichtetes Streben mehr. Vielmehr wird die als traurig empfundene Tonart es-moll (vorgezeichnet ist Es-Dur!) endgültig fixiert. Zum allmählich ausklingenden Ende der Ouvertüre kehren Tempo und Motivik der langsamen Einleitung zurück. Die beiden, Manfred und Astarte zugeordneten, eng miteinander verwobenen Themen prägten nicht nur das musikalische Geschehen der Ouvertüre, sondern setzen im nachfolgen¬den Drama aussagekräftige Akzente.
Den Inhalt dieses, von Byron ausdrücklich als Lese-Drama bestimmten Stücks, strukturiert Schumann in drei Abteilungen. Neben einer Kürzung des Textes um über 350 Verse nimmt er auch einige Umstellungen vor. Gerade um der gängigen Meinung entgegenzuwirken, Manfred sei die englische Version von Goethes Faust, versucht Schumann, eventuelle Parallelen zu tilgen. Im ersten Akt des Dramas sucht Manfred vergeblich, in einem mittelalterlich-düsteren Alpenschloss seine Ruhe. Ein schuldbeladener Fluch lastet auf ihm, der ihn weder Furcht, Wünsche, Hoffnung, noch die Liebe zu Irdischem fühlen lässt. Gesegnet mit spiritueller Macht, beschwört er die Geister der vier Elemente, die ihm allerdings seinen Wunsch nach Vergessen und Seelenfrieden nicht erfüllen können. Stattdessen gaukeln sie ihm die Vision einer schönen Frauengestalt vor. Von großer Sehnsucht erfasst, will Manfred diese umarmen und fällt verzweifelt in Ohnmacht, als das Trugbild entschwindet. Vier Geisterstimmen sprechen den grausamen Zauberbann aus, der auf Manfred lastet: Er soll weder durch Schlaf noch durch den Tod von seinen Qualen erlöst werden, nicht ruhen und auch nicht sterben können. Aus nächtlicher Ohnmacht erwacht, findet sich Manfred in einer morgendlichen Gebirgswelt wieder. Seine empfindlose Seele kann diese Idylle freilich nicht aufhellen. Im Gegenteil wird seine Verzweiflung durch eine Hirtenmelodie noch gesteigert. Ein Gemsenjäger reißt ihn im letzten Augenblick vom Abgrund zurück, den er sich hinunterstürzen wollte.
Im zweiten Akt bietet zunächst die Gastfreundschaft des Jägers Manfred einen Moment lang scheinbaren Frieden; dem Fluch aber kann er sich nicht entziehen. Der Grund wird im vertrauten Gespräch offenbar: Eine verbotene, inzestuöse Liebe, mit der er die Geliebte ins Verderben stürzte. Trost und Hilfe des Jägers schlägt er aus, sucht erneut in der Geisterwelt Erlösung. Er beschwört das Erscheinen der Alpenfee, einer Verkörperung des Schönen. Sie drängt ihn zur Offenbarung des Grundes seiner Qual, der Sünde an seinem Alter Ego, jener Frau, die ihm in allem glich, aber darüber hinaus etwas besaß, was er nicht hatte: Milde, Liebe und Demut. Die Fee verspricht ihm Erlösung, wenn er sich unterordnet. Manfred jedoch wehrt heftig und vermessen ab. Wieder wird es Nacht. Nemesis, Geistergöttin der Rache und Unheilbringerin, entdeckt Manfred und verlangt von ihm, vor Ariman niederzuknien. Manfred will sich nicht beugen, nur die allwaltende Unendlichkeit anerkennen. Beeindruckt von seiner mystischen Kraft, erlauben ihm Ariman und Nemesis, die tote Astarte zu sehen, jene Frau, die er mit sündhafter Liebe ins Unglück stieß und um derentwillen er Höllenqualen erleiden muss. Astartes Scheinbild taucht auf. Aber erst auf Manfreds beschwörende Bitten bricht sie ihr Schweigen, gibt ihm Kunde vom nahenden Ende seiner irdischen Leiden.
Im dritten Akt kehrt Manfred zur Burg seiner Väter zurück und wartet dort in einem ihm neuen Gefühl des Friedens auf sein Ende. Der Abt des Klosters St. Mauritius erscheint, um ihn zur Kirche und zum Glauben zurückzuführen. Manfred weist ihn ab und setzt auch dem „nachtentstiegenen“ Geist, der sich als Manfreds Genius ausgibt und ihn auffordert mitzukommen, seinen letzten zornigen Widerstand entgegen: „Wie ich lebte, sterbe ich – allein!“ Er stirbt im Beisein des Abtes. Hier zeigt sich Schumanns bedeutendste Änderung, setzt er doch ans Ende ein Requiem aeternam. Dadurch wird nachträglich sanktioniert, zugleich aber auch entkräftet, was sich zuvor als stärkste individualistische Komponente der Figur Manfred in der gänzlichen Ablehnung aller Religiosität und spiritueller Hilfen manifestiert hatte. Während Byrons Manfred zum Schluss in einem existentialistischen Nichts und der unvermeidbaren Selbstzerstörung verschwindet, erhält bei Schumann ein Erlösungsgedanke Tragkraft. Um diese Wirkung zu unterstreichen, endet das Werk in der als feierlich empfundenen Tonart Es-Dur, die von Anfang an vorgezeichnet ist, aber nie erreicht wird. Da die Ouvertüre nicht aus dieser tragischen Stimmung herausführt, erscheint die Tonart am Ende umso stärker als erlösend. Jener Friede, den Schumann somit über Manfred und sein Schicksal legt, lässt sich nur bei einer vollständigen Auführung erfahren, weshalb es wenig sinnvoll ist, das Werk auf seine Ouvertüre zu reduzieren.
Die Musik dient im Drama der Charakterisierung einzelner Phänomene. Der Gesang bleibt ausschließlich den Auftritten der Geister vorbehalten, die eine irrea¬le Welt repräsentieren. So lässt Schumann im „Gesang der Geister“ die vier, die Elemente Wasser, Luft, Feuer und Erde vertretenden Geister von einer entsprechenden Stimmlage singen. Das in der Schluss-Szene im Kloster angestimmte Requiem aeternam wird mit der Anweisung „Hinter der Scene in weitester Entfernung“ versehen, um es von der Geisterwelt abzuheben. Außer der Zwischenaktmusik (Nr. 5) sind alle übrigen musikalischen Bestandteile melodramatisch eingesetzt. In ihrer Instrumentation bleiben sie transparent, entweder kammermusikalisch oder sogar solistisch besetzt. Entsprechend gestaltet Schumann auch jene Stelle, an der Manfred erkennen muss, dass ihm die vier Geister nicht das erbetene Vergessen durch den Tod verschaffen können. Stattdessen beschwören diese ein Zauberbild herauf, das ihm die Besinnung raubt. Der leidenschaftliche Klang der piano und dolce spielenden Bratschen und ihre innige, langsame Weise lassen Manfred aufhorchen. Als er wieder erwacht, befindet er sich auf einer Felsenspitze, wo er sich das Leben nehmen will. Davon hält ihn aber eine nun erklingende ferne Melodie des Solo-Englischhorns ab. Schumann streicht heraus, dass zur Welt des Gesangs bzw. der Geister die Menschen keinen Zutritt haben. Ein schon in der Ouvertüre Astarte zugeordnetes Thema erklingt in „Manfred's Ansprache an Astarte“ (Nr. 10) genau in dem Moment, als diese seinen Namen ausspricht. Scheint sich hier bereits eine tröstende und versöhnende Wendung anzubahnen, verklärt gerade dieses Astarten-Thema in der Schluss-Szene Manfreds Ende. Es scheint eine Annäherung, dann sogar eine posthume Vereinigung der beiden unglücklich Liebenden anzudeuten. Dem Erlösungsgedanken ist mithin Rechnung getragen.
(Irmgard Knechtges-Obrecht)