Der Weg ist das Ziel

Neue Zürcher Zeitung 21.06.2007, Nr. 141, S. 53
Zürcher Kultur
Christian Bührle


Der Wiener Aktionskünstler Hermann Nitsch, bekannt für sein «Orgien- Mysterien-Theater», bringt zusammen mit dem jungen Münchner Regisseur Andreas Zimmermann Schumanns «Szenen aus Goethes Faust» erstmals in Zürich szenisch zur Aufführung.

Die «Szenen aus Goethes Faust» gehören zu den Raritäten im Werk von Robert Schumann (1810-1856). Als Klavierpoet und Liedkomponist zählt er zu den bedeutendsten Musikern, in der vokalen Grossform, dem Oratorium und der Oper, musste er den durchschlagenden Erfolg aber entbehren. Wenn jetzt die «Faust»-Szenen auf dem Spielplan des Opernhauses stehen, ist das nicht nur eine Konzession an den Schumann-Schwerpunkt der Zürcher Festspiele, sondern auch eine Herausforderung, das Oratorium erstmals in Zürich szenisch aufzuführen und die Ausstattung mit Hermann Nitsch einem Künstler anzuvertrauen, der zwar für seine Happenings bekannt ist, bisher aber erst zweimal für die Opernbühne arbeitete: 1995 an der Staatsoper Wien in Jules Massenets «Hérodiade», 2001 am Festspielhaus St. Pölten in Philip Glass' «Satyagraha».

Orgien-Mysterien-Theater

1938 in Wien geboren, ist Hermann Nitsch neben Günter Brus, Otto Mühl und Rudolf Schwarzkogler der bekannteste Vertreter des Wiener Aktionismus. Fasziniert von Meistern des 16. und 17. Jahrhunderts und von Künstlern wie Klimt, Schiele und Kokoschka, beginnt er 1954 zu malen, vorzugsweise religiöse Themen wie die Kreuzigung. 1957 erfolgt die erste Konzeption des «Orgien-Mysterien-Theaters» (O.-M.-Theater), eines gross angelegten Festspiels, das in der Art eines Gesamtkunstwerks sämtliche Künste vereinigt und alle fünf Sinne beansprucht. Angeregt durch die Schriften Freuds und C. G. Jungs, durch griechische Tragödien, die Musikdramen Wagners und die Lyrik Georg Trakls, sucht Nitsch alles bisher Dagewesene zu übertreffen. Konkrete Gestalt nimmt das O.-M.-Theater 1959 im «Brunstspiel» an, einem «komprimierten Urdrama», das in einer Mischung aus griechischem Mythos und mittelhochdeutschem Heldenepos die Überwindung des Tragischen thematisiert und in ein Erlösungsfest münden soll. Unter dem Einfluss des Tachismus und des Action-Painting entwickelt Nitsch durch Verschütten und Verspritzen von Farbe die Aktionsmalerei des O.-M.-Theaters. Mittelpunkt ist neben dem Kreuz das Christussymbol des Lammes, das in einem blutigen Ritual zerrissen und ausgeweidet wird, um den Menschen durch diese Erfahrung einer archaisch-religiösen Opfertat der Katharsis zuzuführen.

Als neue Form eines Gesamtkunstwerks beschäftigt das O.-M.-Theater Nitsch seit einem halben Jahrhundert, und er hält es - «der Weg ist das Ziel» - noch immer für entwicklungs- und steigerungsfähig. Denn für Nitsch ist die Intensität, wie sie sich im Isenheimer Altar Grünewalds, in einer Bruckner-Sinfonie oder in einer griechischen Tragödie offenbart, der wichtigste Antrieb künstlerischer Tätigkeit. Aktionsmalerei, Opferritual und religiöse Symbolik, die Hauptelemente des O.-M.-Theaters, prägen auch die szenische Gestaltung der «Faust»-Szenen, sind hier aber gleichsam durch einen mildernden Filter getrieben. Jede naturalistische Dramatik und Drastik soll, da es sich ja um die Umsetzung eines vorgegebenen Stoffes handelt, vermieden und der oratorienhaft-statische Charakter des Werkes betont werden. An die Stelle der aktionistischen Malerei treten Filmprojektionen, die von Goethes Farbenlehre angeregt sind und zusammen mit den kuttenartigen Kostümen einen Effekt wie in einem Farbkaleidoskop ergeben sollen. Was Nitsch reizt, ist die Idee, Goethes Drama, das von Schumann musikalisch durch Orchester, drei Chöre und Singstimmen erweitert wurde, mit den Mitteln der bildenden Kunst in ein Gesamtkunstwerk überzuführen.

Unter den Opernkomponisten bevorzugt Nitsch Wagner, Richard Strauss und die Zweite Wiener Schule von Arnold Schönberg und Alban Berg. Wenn es ein Werk gibt, das er noch «machen» möchte, ist es aus naheliegenden Gründen Wagners «Parsifal», der mit seiner Erlösungsthematik Nitschs O.-M.-Theater nahesteht. Vielleicht wird dieser Wunsch in München in Erfüllung gehen, wo Klaus Bachler, der Nitsch 2005 eine Aktion am Wiener Burgtheater ermöglichte, 2008 die Intendanz der Bayerischen Staatsoper übernimmt.

Nitsch-Museum

Ausstellungen mit Werken von Nitsch und Aktionen fanden in den meisten europäischen Ländern und auf fast allen Kontinenten statt, hauptsächlich auf Schloss Prinzendorf nördlich von Wien, das Nitsch 1971 erwarb und wo 1998 das Sechs-Tage-Spiel der 100. Aktion stattfand. Erst kürzlich wurde in Mistelbach unweit von Prinzendorf in einem alten Industriekomplex das erste dem Künstler gewidmete Museum eröffnet (vgl. NZZ 2./3. 6. 07). Der ÖVP-Bürgermeister des Städtchens bekannte damals im Wiener «Standard», Nitsch fordere noch immer zu starken Reaktionen heraus und lasse einen einfach nicht kalt.
Zürich, Opernhaus, 24. Juni.