Bis zu seinem Tod lebte der Romantiker in der Irrenanstalt - nun sind seine Krankenakten erschienen.
Hamburger Abendblatt, 29.07.2006, Nr. 175, S. 8
Ressort: Kultur & Medien
Bettina Brinker
Schumann: Der Komponist starb vor 150 Jahren "Mittags 60 Athmungen, Puls kaum fühlbar"
29. Juli 1856. "Heute Morgen freiwillig einige Löffelchen Gelée. Urinierte ins Bett . . . Um 1 Uhr Mittags 60 Athmungen, Puls kaum fühlbar. Starb um 4 Uhr Nachmittags." Es war der letzte Eintrag, den Dr. Franz Richarz in der Akte seines Patienten Robert Schumann notierte.
Zwei Jahre lang hatte der Gründer und Leiter der Nervenheilanstalt Endenich bei Bonn den Krankheitsverlauf des Komponisten minutiös protokolliert. Speichel, Stuhlgang, Klistiere, Wahnvorstellungen, Angstzustände, Agressivität, Schläfrigkeit, Gerhörstäuschungen, Sprachstörungen, Melancholie, Mundgeruch, Verwirrtheit, Krampfanfälle, Fußbäder, Essensverweigerung, Schleimrasseln, Zuckungen.
Eine nüchterne Chronik der letzten beiden Lebensjahre des vermutlich an Syphilis erkrankten Schumanns, die bisher ein blinder Fleck in seiner Biographie waren. Und die pünktlich zum 150. Todestag des Romantikers erstmals der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. "Robert Schumann in Endenich (1854-1856) - Krankenakten, Briefzeugnisse und zeitgenössische Berichte" ist aber mehr als die umfassende Dokumentation des körperlichen und geistigen Verfalls von Schumann. Das von Bernhard R. Appel herausgegebene Buch setzt den Spekulationen um Schumanns Aufenthalt in Endenich ein Ende, deren Opfer vor allem Clara Schumann war.
Man warf ihr vor, sie habe ihren Mann in die Anstalt abgeschoben, um sich ungestört ihrer Liebelei mit dem jungen Johannes Brahms widmen zu können. Als "Beweis" führte man immer wieder an, daß sie ihn erst kurz vor seinem Tod besuchte. Aus den Krankenakten sowie Briefen und Notizen von Clara, Brahms und anderen Zeitzeugen, die Appel chronologisch miteinander verknüpft hat, geht aber hervor, daß die Ärzte ihr von Besuchen abrieten. Dabei litt sie doch "tiefes Weh", wie sie notierte.
Daß die Akten verschollen waren, bestätigte viele darin, daß damals nicht alles mit rechten Dingen zugegangen war. Es hieß, Richarz hätte seine Aufzeichnungen verschwinden lassen, um den Mißerfolg seiner Therapie zu verbergen. Auch Clara wurde verdächtigt, sie vernichtet zu haben. Dabei hatte Richarz, wie es aussieht, sie behalten, weil er seine Schweigepflicht ernst nahm.
1987 gelangten die Akten in die Hände des Komponisten Aribert Reimann. Er bekam sie von seinem Onkel Dietrich Rühle, Psychiater an den Berliner Dietrich-Bonhoeffer-Anstalten, vererbt. Der wiederum war der Patensohn von Tula Richarz, einer Schwester von Reimanns Großvater, die mit einem Sohn von Dr. Franz Richarz verheiratet war.
"Jahrzehntelang lebte ich mit diesem Geheimnis, das mir immer wieder schlaflose Nächte bereitete", schreibt Reimann im Vorwort. Der Onkel hatte ihn um "strengstes Stillschweigen" gebeten. Schließlich reifte in ihm aber der Entschluß, "diesen Krankenbericht publizieren zu lassen, um endlich einen Schlußstrich zu ziehen unter die ständigen Verleumdungen, die sich um Schumanns Aufenthalt in Endenich ranken."
Einen Tag vor seinem Tod schrieb Clara: "Ach, ich mußte Gott bitten, ihn zu erlösen, weil ich ihn ja so lieb hatte."