Henriette Reichmann (1819–1868)

Henriette Reichmann, ca. 1860 (Signierte Photographie, Robert-Schumann-Haus Zwickau)

Die in Stuttgart geborene Pianistin Henriette Reichmann erhielt ihren ersten Klavierunterricht von dem Musiklehrer und Liedkomponisten Friedrich Christian Schmidt (1802–1873), er war seit 1818 Sänger und Schauspieler am Stuttgarter Theater und ab 1830 Korrepetitor. Henriettes Vater Christian Gottlieb Reichmann (1791–1857) war ebenfalls, als Theatermagazin-Verwalter, mit dem Stuttgarter Theater verbunden. Hier trat Henriette Reichmann auch erstmals 1837 als Pianistin auf.

Als Clara Wieck im Januar 1839 zu ihrer zweiten Konzertreise nach Paris unterwegs war, machte sie auch Zwischenstation in Stuttgart – hier begegneten sich die zwei 19-jährigen Künstlerinnen erstmals am 24. Januar auf einer Soiree Gustav Schillings, wobei Clara in ihr Tagebuch notierte: „Abends eine kleine Gesellschaft bei dem Dr. Schilling. Ich spielte viel daselbst. Frl. Reichmann, M.[adame] Heinrich, M.[adame] Sick, gute Klavierspielerinnen.“ (Jugendtagebücher, S. 315). Der Schriftsteller und Lexikograph Gustav Schilling (1805–1881), ab 1830 Klavierlehrer in Stuttgart, hatte Clara Wieck 1838 in seinem Universal-Lexicon der Tonkunst aufgenommen, in dem zu lesen ist, sie sei „unter den jetzt lebenden Claviervirtuosinnen unbedingt die größte, überhaupt aber eine geniale Künstlerin“ (6. Bd., S. 861). In Stuttgart half ihr Gustav Schilling zudem bei den Konzertvorbereitungen, Robert Schumann aber zeigte sich gar nicht erfreut über die Schmeicheleien des Herren und warnte Clara eindrücklich vor ihm.

Clara war im Gegensatz zu ihrer ersten Konzertreise nach Paris 1831/32 diesmal ohne Begleitung ihres Vaters – der Konflikt um die Eheschließung mit Robert Schumann hatte sich so zugespitzt, dass Friedrich Wieck die Unterstützung seiner Tochter weitestgehend beendete. Als Reisebegleitung stellte er seiner Tochter eine ihr fremde Französin an die Seite, Claudine Dufourd. Clara war ihr gegenüber sehr misstrauisch und ahnte, dass sie im Sinne Friedrich Wiecks den Briefkontakt zu Robert Schumann überwachen bzw. unterbinden sollte. Ein Glücksfall war es also, dass Clara Wieck in Stuttgart auf Henriette Reichmann traf, die ihre neue Reisebegleitung wurde: „Ich soll Fräulein Reichmann mit nach Paris nehmen, und thue es auch mit dem größten Vergnügen. Die Eltern und die Tochter sind die Güte selbst, ganz einfache liebe Leute, an die ich mich sehr angezogen fühlte. Beide Eltern weinten, daß sie ihre liebste Tochter so allein fortgehen lassen sollten, doch freuete mich auf der anderen Seite das Vertrauen unendlich, daß sie mir diese Tochter anvertraueten. Mein großer Vorsatz ist es zu thun was in meinen Kräften steht. Henriette ist mir bereits schon eine liebe Freundin geworden.“ (Jugendtagebücher, S. 315; Eintrag vom 26.1.1839).

Henriette Reichmann war nicht nur Reisebegleiterin, sondern erhielt in den nächsten Monaten auch Klavierunterricht von Clara Wieck, der Hauptgrund, warum sie überhaupt mitkam, und stand ihr auch emotional bei, wenn die Sehnsucht nach Robert Schumann zu groß wurde. Claudine Dufourd wurde bald nach Ankunft in Paris aus ihren Diensten entlassen. Als die große Konzertreise im August 1839 beendet war, trennten sich die Wege beider Künstlerinnen in Frankfurt am Main: Clara Wieck reiste weiter nach Altenburg, wo sie nach einjähriger Trennung Robert Schumann wiedersah, und Henriette Reichmann kehrte nach Stuttgart zurück. Hier gab sie am 12. Oktober 1839 ein eigenes Konzert: „Sie spielte Beethovens C-Moll-Sonate [op. 13], Etuden von Chopin und Henselt, und Thalbergs sogenannte Moses-Fantasie [op. 33]. Nach dem, was sie leistete, haben wir einen Grund mehr, unsere hohe Bewunderung gegen ihre ausgezeichnete Lehrerin [Clara Wieck] und so wohlwollende Freundin auszusprechen, nämlich den, daß mit anerkannt vollendeter Meisterschaft auf dem Claviere dieselbe auch ein seltenes Talent und eine seltene Gabe zum Unterricht verbindet. Anders hätte sich jene Leistung der Frl. Reichmann noch nicht so achtungswerth gestalten können, und haben wir Ursache, unsern Dank auszusprechen für die Bereitwilligkeit, mit welcher Frl. Wieck sich der Arbeit unterzog, wie für den Eifer, womit sie dieselbe vollbrachte…“ (Jahrbücher des deutschen National-Vereins für Musik und ihre Wissenschaft vom 7. November 1839, S. 254). Ein weiteres Konzert in Stuttgart, bei dem sie das Klavierkonzert g-Moll op. 25 von Felix Mendelssohn Bartholdy spielte, ist für den 21. März 1843 belegt. Zwar äußerte sich Clara auch immer wieder kritisch über Henriette Reichmanns Klavierspiel, doch blieben sie weiterhin freundschaftlich per Briefkontakt in Verbindung.

Etwa ab 1849 ließ sich Henriette Reichmann in Hull (England) als Klavier- und Gesangslehrerin nieder. Im Sommer 1853, 14 Jahre nach der gemeinsamen Parisreise, besuchte sie Clara Schumann in Düsseldorf, zu diesem Anlass widmete ihr Robert Schumann seine Ball-Szenen – Neun charakteristische Tonstücke für Klavier zu vier Händen op. 109; vielleicht auch in Erinnerung an frühere Zeiten, denn auch Robert Schumann wechselte 1839 einige Zeilen mit Henriette Reichmann, die damals Anteil an dem Schicksal der Verlobten nahm. In einem Brief an Clara Wieck schrieb Robert Schumann am 18. Mai 1839: „Uebrigens hab’ ich Henrietten vorzüglich lieb; sie schrieb mir ein Paar Worte, die waren beßer als Eure ganzen Briefe, nämlich: das Schicksal ist tükisch, das Leben ist kurz; rasch zum Ziel’ – das ist Alles in Allem gesagt, Bravo, Henriette! Sie gefallen mir.“ (zit. nach Seibold, S. 214, H.i.O.). Sein Widmungsexemplar von Op. 109 übersandte Schumann ihr am 10. November 1853 mit den Worten: „Beim Spielen und Hören dieser, wie das Leben selbst, zwischen Lust und Ernst schwebenden Sänge mögen Sie sich dessen, der sie schrieb und Ihnen zueignete, stündlich erinnern. Robert Schumann. Düsseldorf, d. 10ten Nov. 1853.“ (zit. nach ebd., S. 216). Henriettes Antwort enthielt u.a. die vielsagenden Schlussworte: „Daß die einzige Freundin meiner Jugend unsre einzigstehende Clara mich wieder aufgenommen, mich die den Stürmen dieses Erdenpilgerns Einsame-Ausgestoßene, soll für mein ganzes übriges Dasein mit seinem Ernst meine Lust sein.“ (zit. nach ebd., S. 216, H.i.O.). Das letzte Treffen zwischen Henriette Reichmann und Clara Schumann fand im August 1854 statt, als sich beide zur Kur in Ostende aufhielten, bis 1856 standen beide noch in brieflichem Kontakt zueinander.

Vgl. Clara Wieck, Jugendtagebücher 1827‒1840, hrsg. von Gerd Nauhaus und Nancy B. Reich unter Mitarbeit von Kristin R.M. Krahe, Hildesheim 2019, S. 314–316, 322, 334, 616, 617.

Vgl. Freia Hoffmann: Artikel „Reichmann, Henriette, Henrietta“, in: Europäische Instrumentalistinnen des 18. und 19. Jahrhunderts. 2009. Online-Lexikon des Sophie Drinker Instituts, hrsg. von Freia Hoffmann. Online unter: https://www.sophie-drinker-institut.de/reichmann-henriette [8.9.2020].

Vgl. Wolfgang Seibold: Familie, Freunde, Zeitgenossen. Die Widmungsträger der Schumannschen Werke (= Schumann-Studien 5), Sinzig 2008, S. 211–216.

(Theresa Schlegel, 2020)