Eine Pianistin im Schatten Clara Schumanns?
Zum Gedenken an den 175. Geburtstag von Marie Wieck am 17. Januar 2007
Wenn man heute Musikliebhaber und teilweise auch Musikfachleute fragt, was sie mit dem Namen Marie Wieck verbinden, so erhält man oftmals nur einen verschämten Blick oder ein Unwissenheit ausdrückendes Achselzucken, denn die Pianistin, Sängerin, Musiklehrerin und Musikpublizistin ist heute – anders als zu ihren Lebzeiten – der musikalischen Öffentlichkeit weitestgehend unbekannt. Johanna Marie Wieck wurde am 17. Januar 1832 in Leipzig als zweites Kind Friedrich Wiecks und dessen zweiter Frau Clementine, geb. Fechner geboren. Wie auch ihre 13 Jahre ältere Halbschwester Clara Wieck-Schumann (Wieck war in erster Ehe mit Mariane Tromlitz, später wiederverheiratete Bargiel, verehelicht) erhielt Marie von ihrem Vater ihre musikalische Ausbildung und sollte wie auch die ältere Clara, die durch ihre Liebe zu Robert Schumann und die Ehe mit dem Komponisten dem Einfluss des Vaters entronnen war, Pianistin werden. Nicht zuletzt wollte und konnte Friedrich Wieck durch ihre Leistungen erneut darauf verweisen, dass seine Unterrichtsmethode, die Marie später fortführte und publizierte, von Erfolg gekrönt war.
»Gegen Ende des fünften Jahres fing ich an« , so zitiert Marie Wieck selbst in ihren Lebenserinnerungen Aus dem Kreise Wieck-Schumann aus ihrem Tagebuch (das Wieck ebenso wie bei Clara anfänglich selbst im Namen seiner Tochter geführt hatte), »die Tasten zu erlernen und einige Übungen zu spielen. Herr Anger aus Lüneburg gibt mir Stunden. Seit dieser Zeit und im Oktober 1838 fing mein Vater an, nach einigen Unterbrechungen sich ernstlich mit mir zu beschäftigen. Nachdem meine Finger durch Übungen und Tonleitern ziemlich ausgebildet waren, ganz so wie bei Klara, fing ich erst Ostern an, die Diskantnoten zu erlernen. Vorher hatte ich die kleinen Übungen ohne Noten gespielt.« Bei der musikalischen Ausbildung seiner zweitjüngsten Tochter ging Friedrich Wieck adäquat wie bei der älteren Clara vor. Gleiches trifft für die Schulausbildung zu. Ebenso wie Clara wurde auch Marie von Privatlehrern unterrichtet, wobei das Hauptaugenmerk auf dem Gebiet der Fremdsprachen lag. Allerdings verfügte Marie offenbar über geringere musikalische Voraussetzungen als ihre ältere Halbschwester, die ja bekanntlich mit 9 Jahren schon im Leipziger Gewandhaus konzertierte. In den überlieferten Tagebuchnotizen Friedrich Wiecks aus den Jahren 1842/43 geht hervor, dass Marie Schwierigkeiten hatten, Noten zu lesen und die Oktave zu greifen. In ihrem Tagebuch ist von der Hand des Vaters folgende Persönlichkeitseinschätzung von Marie Wieck zu lesen: »Duselig, dumm, faul bin ich ebenso wie Klara. Talent habe ich vielleicht ebenso, aber es schlummert noch tief in mir, Gefühl, Takt und Gehör habe ich aber. Daß sich mein Vater wegen seines erweiterten Pianoforte- und Musikaliengeschäftes nicht soviel mit mir abgeben kann, wird vielleicht eine etwas spätere Entwicklung herbeiführen. […] Meine Erziehung ist sorgfältig und der von Klara ähnlich. In die Schule gehe ich noch nicht, aber mit meiner kleinen Schwester Cäcilie zur Tante, Frau Magister Kunze, bei der wir französisch lernen.« Marie selbst erkannte rückblickend, dass sie »kein frühzeitiges Wunderkind [war], das alles von allein lernt.«
Auch Clara Schumann äußerte sich zuweilen kritisch über das Spiel ihrer jüngeren Halbschwester. So schrieb sie im Februar 1843 in das gemeinsam mit ihrem Mann geführte Ehetagebuch: »Marie spielte allerliebst, doch störte mich bei ihrem Spiel immer die Unlust, die aus jedem Ton zu klingen schien.« Und im Mai des gleichen Jahres stellte sie fest. »[…] sie [Marie] spielt hübsch, doch klingt alles noch entsetzlich eingelernt, was auch bei einem Kinde nicht anders sein kann.«
Die intensive und systematische Ausbildung führte aber dazu, dass Marie Fortschritte machte und in Dresdner Privatzirkeln solistisch und zusammen mit ihrem Vater auftreten konnte. Das Repertoire umfasste ein vierhändiges Rondo von Franz Hünten über Rossinis Barbier von Sevilla, eine Etüde von Johann Baptist Cramer, eine Etüde von Charles Meyer, vierhändige Kompositionen von Carl Czerny und Franz Hünten sowie einen Walzer von Frédéric Chopin. Öffentlich debütierte Marie Wieck dann erstmals am 20. November 1843 in Dresden in einem Konzert von Clara Schumann, die dort mehrere Konzerte gab. Gemeinsam mit ihrer Schwester spielte sie vierhändig die ersten beiden Sätze aus der Sonate op. 47 von Ignaz Moscheles. Marie selbst zitiert in ihren Erinnerungen aus dem Tagebuch ihres Vaters: »Marie tritt mit Gott und mit Gottes Segen zum ersten Mal in dem ersten Konzerte Klaras hier auf …«.
Die Kritiken, u. a. in den Signalen für die musikalische Welt, würdigten ihr Spiel und bescheinigten ihr eine überzeugende künstlerische Leistung. Und auch die kritische Schwester freute sich im Ehetagebuch mit den Worten »er [Friedrich Wieck] hatte wohl lange diesen Augenblick herbeigewünscht, verdiente auch wohl einmal wieder Freude für seine viele Mühe« über die Leistung von Marie. Diese schrieb in ihren Erinnerungen: »Ich sehe noch meinen Vater vor mir, wie er mit ängstlicher Miene, in der Ecke des Podiums sitzend, seine Töchter beobachtete.« Und für ihren Erfolg wurde das 11jährige Mädchen offenbar reichlich belohnt. »Ich bekam«, so Marie selbst, »wie im Tagebuch steht, zur Belohnung ›zwei Kleider, zweimal Theater und ein Abendessen bei Renner‹«.
Diesem ersten öffentlichen Auftritt schlossen sich kürzere Konzertreisen (Eisenach, Weimar, Kassel) an, auf denen sie ihr Vater begleitete. Auch in Leipzig, wo sie verschiedentlich im Gewandhaus und im Musikverein Euterpe auftrat, konnte sie Erfolge feiern. Daneben setzte sie ihre Klavierstudien vor allem bei ihrem Vater fort und begann auch, selbst zu unterrichten. Nachdem sie zunächst einige Unterrichtsabschnitte bei ihrer jüngeren Schwester Cäcilie übernahm, gab sie Anfang 1847 ihrer Nichte Marie Schumann einige Klavierstunden. Dabei setzte sie sich intensiv mit der Lehrmethode ihres Vaters auseinander und führte diese fort. Neben ihrer pianistischen Tätigkeit widmete Marie Wieck außerdem dem Gesang besondere Aufmerksamkeit. Sie erhielt von ihrem Vater Gesangsstunden, trat in den 1860er Jahren auch als Gesangssolistin auf und wirkte später erfolgreich als Gesangspädagogin. Dabei unterrichtete Marie wohl zunächst zusammen mit ihrem Vater, ehe sie später seine Schüler übernahm.
Ihr musikalischer Erfolg beruhte aber vor allem auf ihrer pianistischen Tätigkeit. Sie konzertierte in vielen Städten Europas. Das belegt ihre eigene Programmsammlung, die sich neben anderen Teilen ihres Nachlasses (darunter auch zahlreiche Briefe von und an Marie Wieck) im Besitz des Robert-Schumann-Hauses Zwickau befindet. Spätere große Konzertreisen führten sie u. a. 1851 nach Zürich und Baden-Baden, 1855 nach Wien und Italien, 1864/65 nach England, 1870 nach Russland und 1879 nach Skandinavien. Mit ihrem Klavierspiel begeisterte sie das Publikum, worüber sie in ihren Erinnerungen Aus dem Kreise Wieck-Schumann selbst ausführlich berichtete. Nicht zuletzt wurde sie aufgrund ihrer ausgezeichneten pianistischen Leistungen 1857 zur Hof- und Kammervirtuosin von Hohenzollern ernannt. Ihre letzten Konzerte gab sie am 4. Dezember 1915 und am 15. Januar 1916 im hochbetagten Alter von 84 Jahren in Dresden.
Neben ihrem künstlerischen und pädagogischen Wirken war Marie Wieck auch musikschriftstellerisch tätig und setzte sich vor allem für die Verbreitung der Lehrmethoden ihres Vaters ein. 1877 veröffentlichte sie gemeinsam mit Wiecks Schüler Louis Grosse Friedrich Wieck’s Singeübungen. Bereits zwei Jahre zuvor waren die Pianoforte Studien von Friedrich Wieck erschienen, die auf der Unterrichtspraxis ihres Vaters basierten. 1912 erschien die erste Auflage der bereits erwähnten Familienchronik. Eine schwere Augenerkrankung, die kurz vor ihrem Tode zur Erblindung führte, schränkte in ihren letzten Lebensjahren ihr nahezu rastloses Schaffen sehr stark ein. Marie Wieck starb am 22. November 1916 in Dresden. In einem Nachruf Martin Kreisigs, des Begründers und ersten Direktors des Zwickauer Robert-Schumann-Museums, heißt es: »Mit ihr ist eine echte deutsche Künstlerin zu Grabe getragen worden, eine Künstlerin, die es ernst mit der Kunst nahm, so ernst, dass sie unermüdlich noch tätig war fast bis in ihre letzten Tage.«
Dennoch ist Marie Wieck trotz der großen Anerkennung ihrer künstlerischen Leistungen wohl nie ganz aus dem Schatten ihrer älteren Schwester Clara Schumann herausgetreten. Das Interesse der Öffentlichkeit war außer durch deren hervorragende künstlerische Leistung vor allem durch verschiedene äußere Umstände (der Eheprozeß und die spätere Ehe mit Robert Schumann, der frühe Tod ihres Mannes, ihre Rolle als alleinversorgende und alleinerziehende Mutter) immer wieder auf Clara Schumann gerichtet. Maries Leben verlief im Gegensatz dazu unspektakulär in ›geordneten künstlerischen Bahnen‹. Dies unterstreichend, schrieb sie am 16. April 1905 an Gustav Jansen: »Die Bürgerlichkeit in unsrer Familie hat der Kunst keinen Schaden gemacht.«
Ute Bär
DIE TONKUNST
Januar 2007, Nr. 1, Jg. 1, Seite 52-54