Der Ur-Schumann

Fono Forum, Juni 2010, S. 22-23

Schumanns Sinfonien in einer neuen Gesamteinspielung: Unter diesem Gesichtspunkt hat sich die Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz ihrem Namensgeber zugewandt – und unter ihrem Chefdirigenten Frank Beermann eine Aufnahme vorgelegt, die aufhorchen lässt.

Von Stephan Schwarz.

Geboren in Zwickau, lebte und wirkte Robert Schumann später in Leipzig und Dresden. Das benachbarte Chemnitz dürfte er höchstens mit der Postkutsche gestreift haben. Und dennoch trägt das Orchester der 250.000-Einwohner-Stadt den Namen des Komponisten, auf den die Sachsen – nicht nur im Jahr seines Jubiläums – so stolz sind. Die Frage, warum die Robert-Schumann-Philharmonie so heißt, wie sie heißt, kann auch Frank Beermann nicht mit letzter Gewissheit beantworten. Aber für eine Verlegenheitslösung hält er sie nicht, die Namensgebung des Klangkörpers, der 1983, im Jahr seines 150-jährigen Bestehens, nach einer Alternative zur drohenden Umbenennung in „Philharmonisches Orchester Karl-Marx-Stadt“ suchte. Abgesehen davon, dass sich in einer der größten deutschen Musiker als Aushängeschild eines Orchesters besser macht als der Stammvater des real existierenden Sozialismus, hat Beermann noch andere Gründe zur Hand, die das Wappentier Schumann rechtfertigen.

Zum einen pflegen die Philharmoniker das Werk ihres Landsmanns seit eh und je mit besonderer Hingabe; sowohl im großen Sinfoniekonzert wie auch in Kammermusikveranstaltungen, die in Chemnitz einen besonderen Stellenwert haben. Zum anderen gibt es so etwas wie ein Klanggeheimnis, das die Orchestermusiker nicht mit vielen ihrer Kollegen teilen. Gerade diese aber prädestiniert sie besonders für die Wiedergabe des Schumann’schen Œuvres. „Neben den beiden großen Orchestern Sachsens, der Staatskapelle Dresden und dem Leipziger Gewandhausorchester, ist die Robert-Schumann-Philharmonie das dritte, das in der Tradition einer spezifisch sächsischen Klangausrichtung steht“, sagt Frank Beermann, der den Chemnitzern seit 2007 als Generalmusikdirektor vorsteht.

„Das hat viel damit zu tun, dass die Musiker bis in die DDR-Zeiten fast ausschließlich bei den gleichen Lehrern an den sächsischen Musikhochschulen ausgebildet wurden. Zwischen allen drei Orchestern finden sich Übereinstimmungen im Tonfall, die sich anhand von Aufnahmen bis in die Zeit von Richard Strauss zurückverfolgen lassen. Wenn man weiterdenkt, fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, wie etwa das Gewandhausorchester zu Zeiten Mendelssohns geklungen hat.“ Die Ära, in die auch die Uraufführung zumindest zweiter der vier Sinfonien Robert Schumanns fällt. Und die sind auch das Thema des neuen CD-Projekts der Robert-Schumann-Philharmonie.
Für die Osnabrücker Label CPO (JPC) haben die Musiker, geleitet von Frank Beermann, diese Werke eingespielt; die frühe g-Moll-Sinfonie, auch „Zwickauer“ genannt, ist im Programm allerdings nicht vertreten. Angesichts der hohen Zahl der Gesamteinspielungen möchte man fast von einem gewagten Unterfangen sprechen, wenn dem Katalog noch eine weitere hinzugefügt werden soll. Erstaunlich vor allem für eine Plattenfirma, deren Repertoire sich üblicherweise jenseits der ausgetretenen Pfade bewegt und – meist mit Ersteinspielungen – Komponisten zu ihrem Recht verhilft, deren Wiederentdeckung sich lohnt. Bei Robert Schumann kann von einer Wiederentdeckung jedoch kaum die Rede sein, schon gar nicht, was die Sinfonien angeht. Zumindest möchte man meinen, dass sie dem gebildeten Klassikpublikum geläufig sind. Aber stimmt das wirklich?

Schumann-Jahr hin oder her: Frank Beermann, der ein begeisterter Stöberer und Entdecker ist, hätte sich sicher nicht an eine Neuaufnahme der allseits bekannten Schumann-Sinfonien gemacht, wenn er nicht von einem bestimmten Impuls getrieben worden wäre. Am Anfang stand die Neugier, die ihn zur neuerlichen Lektüre der Partituren in der Ausgabe von Joachim Draheim veranlasste. „Beim Lesen habe ich mir die Frage gestellt: Was wäre, wenn ich einfach alles so belassen würde, wie Schumann es niedergeschrieben hat, und nicht versuche, von Anfang an eine interpretatorische Meinung zu haben.“ Ein überaus simpler Gedanke, gewiss, der aber gerade in Hinblick auf das tradierte (und man muss leider sagen: vorurteilsbehaftete) Schumann-Bild der Vergangenheit dem Ei des Kolumbus gleicht.

Zwar ist Beermann nicht der Erste, der sich bei seiner Interpretation der vier Sinfonien auf den Urtext beruft und die orchestralen „Verbesserungen“ wohlmeinender Komponistenkollegen außer Acht lässt. Die Grundreinigung aber, die Interpreten wie etwa die Hanoverband unter Roy Goodman schon vor einigen Jahrzehnten vorgenommen haben, hat zwar für neuen Glanz gesorgt, schoss mit einer Klangvorstellung, die schon zu Schumanns Zeiten überholt gewesen sein dürfte, in ihrer historisch korrekten Sichtweise aber über das Ziel hinaus. Wo aber steckt der Ur-Schumann? Mit seiner Einspielung hat sich Beermann auf seine Spuren begeben und dabei die Ressourcen eines gewachsenen, modernen Orchesters weidlich genutzt. Festgestellt hat er dabei, dass der Ballast, den man der Musik gerne nachsagt, seinen Ursprung weniger in der Partitur findet als in ihrer Interpretationsgeschichte.

Neben den vielen ungewohnten Instrumentalfarben (die im Gegenteil zu dem, was landläufig behauptet wird, sehr wohl beweisen, wie sorgfältig Schumann den Orchestersatz handhabte) sind es vor allem die Tempi und die Artikulation, die bei dieser Produktion aufhorchen lassen; auch wenn sie sich auf den ersten Blick gar nicht so sehr von den bisher gewohnten unterscheiden. Dennoch erschließen sich hier ganz neue Räume. Durch Zurücknahme des Zeitmaßes etwa in den Trios des dritten Satzes der ersten Sinfonie oder den deutlich leichteren Zugriff auf den üblicherweise sehr düsteren vierten Satz der dritten verschieben sich auf einmal die Akzente, die Sicht auf die sinfonische Architektur wird frei, und die Proportionen treten deutlich hervor.

Ohne über die letzten Geheimnisse einer authentischen Schumann-Aufnahme informiert zu sein, kann man sich vorstellen, wie eine Aufführung der Sinfonien zu Lebzeiten des Komponisten geklungen haben könnte. Für Frank Beermann gehört der Zyklus auf jeden Fall zu den bedeutendsten, die jemals komponiert wurden, gerade die zweite Sinfonie fordert ihm ein Höchstmaß an Bewunderung ab: „vermutlich das komplexeste sinfonische Werk, das vor Mahler komponiert wurde“. Kein Wunder, dass es so viel zu entdecken gibt.

Schumann, Sinfonien; Robert-Schumann-Philharmonie,
Frank Beermann (2009); CPO/JPC 2 SACD 0761203753628