Hector Berlioz (1803-1869)

Abb. 1: Hector Berlioz (1803-1869), Foto von Pierre Petit & Trinquart, 1870-1890, Musée Carnavalet, No. CARPH047133, public domain (vgl. https://www.lookandlearn.com/- composer)

Abb. 2: Abb. Frontispiz aus: Adolphe Julien, Hector Berlioz, sa vie et ses oeuvres. Ouvrage orne de quatorze lithographies originales par M. Fantin-Latour de douze portraits de Hector Berlioz, de trois planches hors texte et de 122 gravures, scenes, theatrales, caricatures, portraits d'artistes, autographes, etc., Paris 1888, Lithographie von Henri Fantin-Latour, Rijksmuseum, ID: RP-P-1922-602, public domain, vgl. https://www.lookandlearn.com

Von 114 überlieferten Porträts des französischen Komponisten Hector Berlioz (1803-1869) sind 55 Karikaturen. Sie zeigen sein Renommee als prominente Figur in der Pariser Kulturszene. Karikiert, auch charakterisiert wird auch sein Ruf als visionärer Organisator riesiger Orchester und Chöre.

Abb. 3: Hector Berlioz, Karikatur aus: La Caricature Provisoire, Nr. 1, 1838. Lithographie, The Metropolitan Museum of Art, Acc. number: 262815, public domain (vgl. https://www.lookandlearn.com/)

Abb. 4: CONCERT A MITRAILLE (Konzert mit Kanone) mit der weiteren Bildunterschrift: „Heureusement la salle est solide, elle resiste“ [Zum Glück ist der Saal solide, er hält etwas aus], ist eine der bekanntesten Dirigententkarikaturen. Grandvilles Karikatur wurde als Holzstich von Best, Leloir, Hotelier und Régnier unter dem Titel „Un concert à mitraille et Berlioz“ zuerst am 15. November 1845 in L’Illustration, Paris, Nr. 142, veröffentlicht. In Louis Reybauds 1846 erschienenem Buch (siehe weiter unten), von dem obige Abbildung stammt, illustriert der Holzstich einen satirischen Bericht zu einem fiktiven von Berlioz auf Einladung einer „Princesse Flibustofskïo“ dirigierten Benefizkonzert zugunsten von Überschwemmungsopfern, in dem der in extravaganter Pose erscheinende Berlioz im Auftrag ein Orchester dirigiert, dessen Instrumente vor allem aus Kontrabässen, Kesselpauken, Posaunen, Tuben und einer Kanone besteht, deren Lautstärke Besucher sich die Ohren zuhalten lässt, weshalb die Satire auch mit den Worten endet, dass der Saal der Lautstärke widerstanden hat (vgl. Die Bildungunterschrift), aber die Ohren leider nicht: „La vie est sauve si les oreilles ne le sont pas“. Die Karikatur war in kürzester Zeit so bekannt, dass sie auch für eine etwas variierte Darstellung eines von Berlioz dirigierten Konzerts in Wien Verwendung fand. Die hier gezeigte Darstellung nach dem Holzstich von Best, Leloir, Hotelin und Régnier nach der Zeichnung von Grandville (Jean Ignace Isidore Gérard, 1803-1847), ist ein Scan aus: Louis Reybaud, Jérome Paturot à la recherche d’une position sociale. Edition illustrée par J. J. Grandville, Paris 1846, Abbildung vor S. 205.
Varshavsky Collection, SKU: LIB-3117.2022, public domain, vgl. https:// varshavskycollection.com/ bzw. https:// varshavskycollection.com/collection/

Vom ersten Auftritt an steckte in Berlioz’ Musik ein fesselndes Potential: Innovative räumliche Wirkungen, ungewohntes Exponieren von Orchesterinstrumenten, bewusstes Aufeinanderprallen regulärer und irregulärer Passagen, ein neuartiger Umgang mit Rhythmus, ein selbstbewusster Zugriff auf Sprache und poetische Stoffe, das Entwickeln symphonisch- vokaler Formate, die in kein Raster passen.

Abb. 5: „Un Bal“ aus Hector Berlioz’ Symphonie Fantastique, aus: Adolphe Julien, Hector Berlioz, sa vie et ses oeuvres. Ouvrage orne de quatorze lithographies originales par M. Fantin- Latour de douze portraits de Hector Berlioz, de trois planches hors texte et de 122 gravures, scenes, theatrales, caricatures, portraits d'artistes, autographes, etc., Paris 1888, Lithographie von Henri Fantin-Latour, 1888, The Art Institute of Chicago, Object reference: 1927.2967, public domain, vgl. https:// www.lookandlearn.com/

Robert Schumann erkannte dieses Potential, als er 1835 in der ein Jahr zuvor von ihm gegründeten Neuen Zeitschrift für Musik Berlioz’ Symphonie Fantastique besprach. In den folgenden Jahren korrespondieren sie, zum Teil auch öffentlich; Berlioz in der Zeitschrift Revue et Gazette Musicale. 1843 treffen sie sich in Leipzig, wo Berlioz auf Mendelssohns Einladung hin mehrere Konzerte im Gewandhaus gibt. Von einem Ausschnitt der Grande Messe des Morts (Requiem), dem Offertorium, ist Robert Schumann nach Berlioz’ Erinnerung „elektrisiert“. In seinen Memoiren schreibt Berlioz, wie ein Arzt in Leipzig, der ihn behandelte, statt der Bezahlung um ein signiertes Blatt mit dem Thema des Offertoriums bat: „nie hat ein Musikstück mich so ergriffen.“
In Paris jedoch begegnete ihm durchweg eine schmerzende Gleichgültigkeit gegenüber seinem Werk. Er hatte einen Posten als Bibliothekar am Conservatoire inne und war überdies wirtschaftlich darauf angewiesen, Kritiken zu schreiben. Diese Tätigkeit machte dem geistreichen Autor jedenfalls auch Freude und trug zu seiner Bekanntheit bei. Bei den abendlichen Studien nahe des Orchesters eignete er sich zudem unschätzbare Kenntnisse für die Komposition und Führung der Instrumente an.
In einer europäischen Gesamtausgabe wird das musikalische Œuvre Berlioz’ ins Licht gerückt: die Opern, Sinfonien, Lieder, geistlichen und dramatischen Chorwerke, nicht zuletzt der einflussreiche „Grand Traité d’instrumentation et d’orchestration modernes“ (Instrumentationslehre). Die New Berlioz Edition, abgeschlossen 2005, wurde angestoßen und wissenschaftlich geleitet durch britische Berlioz-Forscher, verlegerisch betreut beim Kasseler Bärenreiter-Verlag, maßgeblich finanziert von der in Portugal beheimateten Calouste Gulbenkian Foundation. Es gibt sogar einen eigenen Band über Berlioz-Porträts (Hrsg. Gunther Braam). Seit 2007 gibt es zwei modern kommentierte Ausgaben der berühmten Autobiographie „Les Mémoires de Hector Berlioz“ in deutscher Sprache.
In Großbritannien startete der Dirigent Colin Davis einen legendären Schallplattenzyklus mit Berlioz’ Werken. Der Musikkritiker David Cairns schuf 1989 bzw. 1999 die unübertroffene zweibändige Berlioz-Biographie „The Making of an Artist (1803-1832)“ und „Greatness and Servitude (1832-1869)“. Cairns leitet die Lebensbeschreibung im populären Penguin Verlag damit ein, dass er selbst in der „teutonischen“ Tradition (Bach, Beethoven, Brahms) groß geworden sei und Berlioz erst verstand, als er eines Tages selbst bei einer Produktion von La Damnation de Faust im Orchester mitspielte. Hierzulande mutet es ungewöhnlich an, dass ein Musikautor mit einer 1500 Seiten starken Komponisten-Biographie Literatur-Preise erringt, und noch ungewöhnlicher, dass sie ins Französische übersetzt worden ist.
Wolfgang Dömling verfasste das Lesebuch „Hector Berlioz und seine Zeit“. Glänzend geschrieben, stellt es den Komponisten vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Literatur an den Anfang einer musikalischen Moderne. „Was Berlioz bei seinen Reisen in das musikalische Neuland entdeckt hat: das Eigenleben von Klang und Rhythmus; den musikalischen Raum; die Geschwindigkeit und die Masse in der Musik; die Wahlfreiheit des Ausdrucks, jenseits eines approbierten Schönheitskanons“.
Wenn Berlioz sich in seinen eigenen Essays ab 1829 auf die musikalischen Vorbilder Gluck, Weber, Beethoven beruft, preist er unter anderem die Freiheit, „originelle, sogar bizarre Phrasen“ einzusetzen, um „außergewöhnliche Empfindungen“, ja selbst eine „neue Welt“ zu erschaffen. Enthusiastisch begrüßt er 1837 Johann Strauss, der mit seinem Orchester einem erstaunten Paris die neusten Wiener Walzer vorstellt; ihre rhythmische Flexibilität durch schnelle Abfolge oder gar Gleichzeitigkeit verschiedener Metren, die synkopische Eleganz beflügelten ihn.
Für Berlioz’ Suche nach dem „wahren Ausdruck“ ist das Irreguläre unverzichtbar. Er sucht es geradezu, in Mephistos Auftritten, doch auch in Marguerites Lied vom König von Thule (La Damnation de Faust) oder in der grandios orchestrierten Gestaltwerdung von Hektors blutig-unordentlichem Geist in der Trojaner-Oper Les Troyens.

Abb. 6 und 7: „Faust’s Verdammung“, Bild 1 und 3 aus der sechsteiligen Serie der Liebigbilder (Liebigs Fleisch Extract) Hector Berlioz „Faust’s Verdammung“ (La Damnation de Faust), Bild 1, im Bild bezeichnet: BERLIOZ - FAUST'S VERDAMMUNG 1. Grosser ungarischer Marsch.Faust: "Im Siegesrausche erglühn ihre Herzen, nur das meine bleibt kalt.“ Bild 3, bezeichnet: BERLIOZ - FAUST'S VERDAMMUNG 3. Der Traum Margaretens. Mephisto: "Der Flackerflammen irre Geister eilt herbei.“. Vor dem Einschlafen singt Margarethe im dritten Teil von Berlioz’ La Damnation de Faust das Lied vom „König in Thule“. Vgl. Jutta Assel | Georg Jäger, Goethe-Motive auf Sammelbildern. Eine Dokumentation. Hector Berlioz: Faust's
Verdammung (Liebigbilder), Goethezeitportal, Stand: Januar 2017, vgl. http://www.goethezeitportal.de/, woraus auch die beiden Abbildungen stammen.

Abb. 8: Erscheinung von Hektors Geist, der dem schlafenden Aeneas Trojas Untergang verkündet und ihm den Weg nach Italien zur Gründung eines neues Reiches weist, Szene aus Berlioz’ Oper Les Troyens (Die Trojaner), 1. Teil: La prise de Troie (Die Eroberung von Troja), 3. Akt. Lithographie von Henri Fantin- Latour, 1888, The Art Institute of Chicago, Object reference: 1927.2985, public domain, vgl. https://www.lookandlearn.com/

Berlioz’ Imaginationskraft und poetische Sensibilität bilden einen reizvollen Widerpart zu seiner Lust am technischen Fortschritt, am elektrischen Metronom, der Bahn, an neuen Musikinstrumenten. Zur Weltausstellung 1851 fuhr Berlioz als Sachverständiger für Musikinstrumente nach London. Bei dem Rundgang von Queen Victoria in der Ausstellung hörte er einen großen Chor das National Anthem „God save our gracious Queen“ singen; anschließend wandte sich die Königin den exotischen und modernen Objekten zu. Beides machte tiefen Eindruck auf Berlioz, und er lässt den Karthago-Teil der Troyens mit einem „Chant national“ beginnen, der dem britischen National Anthem durchaus nachempfunden ist: „Gloire à Didon, notre reine
chérie“ („Preis und Ehre unserer geliebten Königin Dido“). In der nächsten Szene lässt sich Königin Dido die Bau-Fortschritte ihrer Stadt Karthago präsentieren. Eine verblüffende Verbindung zwischen Antike und Moderne.

 

Berlioz im Netz

Die zweisprachige Website http://www.hberlioz.com/index.html wurde 1997 von zwei in Schottland ansässigen Akademikern aufgelegt. Einmal pro Monat auf den neuesten Stand gebracht, wächst ihr Inhalt beständig, auf mittlerweile 14.000 Dateien, davon 6000 Bilder und Illustrationen (Illustration: Brief von Berlioz an Jules Lecomte, 1854. Musée Hector Berlioz, La Côte Saint-André).
Was zunächst auffällt, ist die altmodische Schlichtheit der Aufmachung, die klare Struktur. Hinter dreißig Sektionen eröffnet sich eine Welt in beeindruckender Vielfalt.
Die Rubrik Musical Works (http://www.hberlioz.com/ index.html#music) bietet Partituren sämtlicher Orchesterwerke, dazu Recherche-Punkte wie „Texts and Documents“, „Berlioz Libretti“, eine umfangreiche Bibliographie. Versammelt sind sämtliche – fast vierhundert – Feuilletons aus der Feder Berlioz’ für das Pariser Journal des Débats mit eigener Suchfunktion, der komplette Text der „Mémoires“ plus Entstehungsgeschichte, Essays wie „Les Soirées de l’orchestre“ sowie Briefe, auch in englischer Übersetzung.
Eine Fundgrube ist die Sektion über Berlioz’ Reisen. Städte im In- und Ausland werden mit Konzertprogrammen und Auszügen aus entsprechenden Briefen verknüpft und mit den Namen beteiligter Künstler verlinkt – etwa zum Schumann-Freund Joseph Joachim, damals Sologeiger im Hannoverschen Orchester, der am 22. November 1853 in Bremen den Violapart in Berlioz’ Sinfonie Harold en Italie spielte, mit Berlioz als Dirigenten.
Neben der Faktensammlung begegnet uns in dieser herausragenden website eine zugewandte Sprache. Hinter beidem steht die enthusiastische Hingabe der Autoren: „devoted to the music, life and works of this great figure.“

Anja-Rosa Thöming (November 2022)

Abb. 9: Tuba Mirum Spargens Sonum, Lithographie von Henri Fantin-Latour (1836-1904), zum 2. Satz der Grand Messe des Morts (1837) von Hector Berlioz. Tuba Mirum Spargens Sonum („Der schrille Klang der Posaune“) aus dem lateinischen Text des „Dies irae“, dem „Tag des Zorns“ beim Jüngsten Gericht, ist seit dem Konzil von Trient bis 1970 fester Bestandteil der Totenmesse gewesen ist. Abbildungsvorlage: Porträtsammlung Manskopf, Frankfurt am Main, Stadt- und Universitätsbibliothek, Signatur: S 36/G00435 public domain, vgl. https://sammlungen.ub.uni- frankfurt.de/


Einstellung der Abbildungen und Erstellung der Bildunterschriften vor Onlinestellung: Ingrid Bodsch