Von Volkston und Romantik

Des Knaben Wunderhorn in der Musik.

Hrsg. von Antje Turmat und dem Internationalen Musikfestival Heidelberger Frühling.
XVI I I, 220 S., Abb. und Notenbeispiele.
Heidelgerg: Universitätsverlag Winter, 2008
ISBN: 978-3-8253-5333-9

Vom Tag ihrer Veröffentlichung an erfreut sich die von Achim von Arnim und Clemens Brentano herausgegebene Sammlung Des Knaben Wunderhorn großer Popularität und ist für den gesamten europäischen Kulturkreis wichtig. Zum 200. Jahrestag des ersten Erscheinens dieser bedeutenden Gedichtsammlung veranstaltete das Musikwissenschaftliche Seminar der Universität Heidelberg gemeinsam mit dem Internationalen Musikfestival Heidelberger Frühling 2006 ein Symposion zur musikalischen Rezeption der Wunderhorn-Texte. Vorliegendes Buch vereinigt in gedruckter Form die Beiträge des Symposions, das eine Verbindung zwischen wissenschaftlicher Auseinandersetzung, musikalischer Praxis und musikinteressiertem Publikum herzustellen versuchte, was sich hier in gelungener Weise widerspiegelt. Da die Sammlung Des Knaben Wunderhorn den eigenwilligen Fall von „Volksliedern” ohne Musik darstellt, regte sie von Anfang an bis in die Moderne unzählige Komponisten zu Vertonungen an. Allein diese Ergebnisse rechtfertigen nachträglich jene seinerzeit von den beiden Herausgebern getroffene Entscheidung, die Texte ohne Beigabe von Noten zu publizieren. Ebenfalls entwickelte sich das vom Volkslied kaum zu unterscheidende, komponierte Kunstlied „im Volkston”, sogar die grundsätzliche Definition des „Volkstons”, in Anlehnung an diese Sammlung. Nicht zuletzt inspirierte sie Dichter zu Eigenschöpfungen im Stile der Wunderhorn-Texte.

Die Beiträge des Symposions beschäftigen sich eingehend mit einzelnen Phänomenen der Sammlung, an die aus unterschiedlichen Perspektiven herangegangen wird. Eine ausführliche Betrachtung wendet sich dem Volkslied generell zu. Nach einer Überflutung der diesbezüglichen Literatur mit nationalsozialistischem Gedankengut (sogar noch nach dem 2. Weltkrieg) gilt das Volkslied inzwischen eher als Stiefkind musikwissenschaftlicher Forschung. Umso erfreulicher, nun in diesem Kontext dem Thema eine ausführliche und von ideologischen Verfremdungen losgelöste Betrachtungsweise zu widmen. Vielfältige Ansatzpunkte und Untersuchungen beziehen darüber hinaus entlegene Bereiche ein, deren Kontext sich dem Leser nicht auf Anhieb erschlossen hätte.

Den Rahmen bilden zwei Untersuchungen zur grundsätzlichen Abgrenzung der Begriffe „klassisch” und „romantisch” (Dieter Borchmeyer) sowie zu einer soziologisch begründeten Einbettung romantischer Souveränitätsansprüche an die Kunst in die Moderne zum Schluss des Bandes (Hans-Joachim Giegel). Dazwischen entfaltet sich ein breites Spektrum. Der gemeinhin nur durch Franz Schuberts Vertonungen bekannte Dichter Wilhelm Müller beschäftigte sich als erster intensiv mit der Musik des italienischen Volkes. Er sammelte dessen Lieder, übersetzte sie und warf einen musikethnologischen Blick mit überraschendem Ergebnis darauf (Silke Leopold). Zwei gegensätzliche Pole entfalten sich zwischen der Musik und Gedichte schriftlich festhaltenden, berühmten Schwester des einen und Ehefrau des anderen Wunderhorn-Herausgebers, Bettine von Arnim, einerseits und Amalie Joachim andererseits, die als eine der wichtigsten Konzertsängerinnen des ausgehenden 19. Jahrhunderts gilt. Sie brachte als erste Sängerin Volkslieder bzw. Lieder „im Volkston” in den Konzertsaal (Beatrix Borchard). Dem Interesse der Komponisten an den Wunderhorn-Gedichten sowie ihren musikalischen Umgang damit analysiert Jörg Krämer, indem er deren „Musikabilität und Medialität” nachgeht. Der konkreten Entstehungsgeschichte der Wunderhorn-Sammlung widmet sich Heinz Rölleke und gelangt zu bisher ungeahnten Erkenntnissen. Er zeichnet die Quellenlage auf, jene durch beide Herausgeber vorgenommenen Adaptionen sowie die dadurch gelenkte Rezeption. Einzelne Komponisten von Wunderhorn-Liedern und deren Vertonungen „im Volkston” werden in den Untersuchungen zum populären Wiegenlied von Johannes Brahms, dessen Text erst spät als Wunderhorn-Vertonung identifiziert wurde (Johannes Behr), sowie zu Robert Schumanns Eichendorff-Liedern (Marie-Agnes Dittrich) erfasst. Eichendorffs Lyrik wurde wie keine andere durch die Sammlung inspiriert. Schumann versucht in seinen Vertonungen diesen inszenierten „Volkston” aufzugreifen und dessen „harmonische Narration” nachzuvollziehen, was gerade durch die letztlich nur fragmentarisch erfolgte Umsetzung äußerst reizvoll wirkt.

Eine zentrale Rolle spielt die Gedichtsammlung im Schaffen Gustav Mahlers, der die Wunderhorn-Texte nicht nur vertonte, sondern auch in seine Symphonien einfügte. Den interessanten Fall der Soldatenlieder Mahlers, seiner damit verbundenen musikalischen Reflexion des Soldatendaseins generell, betrachtet Albrecht von Massow unter Rückbeziehung auf Adorno in „Romantik als Gesellschaftskritik”. Den Nachweis, dass die Lektüre der Wunderhorn-Sammlung sowie die Vertonung einzelner Texte Mahler als „Vorschule symphonischer Ästhetik” diente, tritt Dorothea Redepenning überzeugend an.  

Sinnvoll abgerundet wird der ebenso vielseitige wie aufschlussreiche Band mit einer „Liste der Vertonungen in Auswahl”, die Caren Benischek sorgfältig und auch zum praktischen Gebrauch tauglich zusammengestellt hat. Insgesamt eine wertvolle Sammlung fein aufeinander abgestimmter Untersuchungen, die sowohl dem Wissenschaftler erstaunliche Erkenntnisse, als auch dem interessierten Laien verständliche und mit Freude zu lesende Einblicke vermittelt.


Die Besprechung wurde zuerst veröffentlicht in Die Tonkunst. Magazin für Klassische Musik und Musikwissenschaft, Heft Nr. 4/Okt. 2008.