Schumann, der moderne! Ein Quantenkomponist!

Zu Robert Schumann

Nicolaus A. Huber

In: Die Tonkunst. Magazin für klassische Musik und Musikwissenschaft, Juli 2010, Nr. 3, Jg. 4, S.413-414

Wenn Bach Meer, müsste Schumann Erdenrund und Himmelstürmer heißen! Seine Synchronitäten sind prall gefüllt, seine Verrücktheiten hin- und herzuckende Harmonieblitze, sein Orchestersatz nicht schlecht, sondern kompakt, um Wenighörbares oder gar Unhörbares hineinbergen zu können. Seine Begeisterung für Virtuosität, als er 1830 Paganini in Frankfurt hörte, nahm nach der Überlähmung seines vierten Fingers eine eigene Wendung, hin zu einer Virtuosität expliziter Fantasie, geprägt von verblüffenden Reichweiten und herausfordernder Beweglichkeit musikalischer Gefühlsbilder.

Wer hätte eine »Replique« komponieren können, eine »Pause«, in der man sich nicht erholt, sondern »precipitandosi« (im »Vivo«) hineingerissen wird (man vergleiche Cage, Satie und meine Pausen-Filterversion von »To Marilyn Sixpack«, Beispiele, in denen die Pause etwas hereinlässt, aber eigentlich nicht ist!), wer »Lettres dansantes«? Wer hat aus bloßen Wiederholungen achttaktige Sätze bilden können und Stücke mit ein- oder doppeltaktigen, unverschoben wiederholten Melodiegestalten komponiert, eben nur einer, der in »Paganini« im Fortissimo-Presto die rechte Hand gegen die linke um ein (!) Sechzehntel verschiebt und das harmlos »Intermezzo« nennt!

Der Verrückende begradigt auch in auffallender Weise und wer so viel von Zeit versteht, der kann aus den tanzenden Buchstaben auch »Sphinxes« machen, drei Sphingen zu vier, drei und vier Tönen, in Breven einheitlich notiert – kein Rhythmus (?), ohne Dynamik, ohne Tempo……. die Musik herausgezogen, ein rätselhafter Anstoß, sie in eine Klangwirklichkeit zu bringen, in der alles auch rätselhaft bleibt: der Klang, die Sphinxen, ihre Umgebung (die Pianistin Catherine Vickers tauchte sie in einem stumm gehaltenen tiefen TastenCluster ein).

Clara Wieck – vorsicht Witwe! – war diesem experimentellen Extremismus nicht gewachsen und empfahl in ihrer Schumann-Gesamtausgabe, immerhin nur als Fußnote, diese Sphinxes nicht zu spielen. Dies Rätselhafte hat mich zu meinem Stück »AIR mit ›Sphinxes‹« für Ensemble inspiriert. Siebenundsiebzig Melodietöne durchziehen das Stück, alle verschieden lang, alle verschieden auskomponiert und meist so verschwommen im Kontext, dass keiner auf die Idee käme, darin ein einstimmiges Stück erkennen zu wollen.

Schumann kannte auch das Unscharfe, z. B. die aufgelöste Harmonie, in der plötzlich kurze Melodieteile sich verfestigen, oder die neblige Beziehung von Intervalltönen wie etwa in »Zwielicht«, aus denen und kurzen Verfestigungen ich mein »Demijour« entwickeln konnte. Meist sagt die Harmonik einer Melodie wo’s hingehet. In der »Fantasie« op. 17 gibt es eine Melodie, da sagt jeweils nur der vorausgehende Ton dem nachfolgenden wo er zu sein hat!
Der glänzende Formulierer litt am Ende an einer Art Zungenlähmung, nuschelte Unverständliches. Dies war für mich das Modell in »Pour les Enfants du paradis« ein Schlussstück zu schreiben: »Erik Satie im Mund Robert Schumanns« (ffff gegen pppp gesetzt).

Als Überformulierer geheimnist er in die »Papillons« eine viertönige Grundgestalt an alle möglichen Orte, syntaxunabhängig und für das Musikverstehen unnötig. Eine geheimnisvolle Verschwendung, die man mit Bataille als unökonomische Verschwendung und damit antikapitalistisch bezeichnen könnte. Aber in der Musik??

Schumann, der moderne!
Ein Quantenkomponist!

[Nicolaus A. Huber]

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