»Robert Schumann – Das Spätwerk für Streicher«

Musikwissenschaftliches Symposium 14.–16. Mai 2010
Staatliche Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart

Ein Bericht von Eva-Magdalena Dietrich

Die Tonkunst. Magazin für klassische Musik und Musikwissenschaft, Juli 2010, Nr. 3, Jg. 4, S. 406 – 409

Ein musikwissenschaftliches Symposium zu Robert Schumann im Schumann-Jahr – welchen Anspruch kann, ja, soll man an ein solches stellen? Die Veranstalter an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart haben ihre primäre Zielsetzung deutlich gemacht: Wissenschaft und Kunst sollen nicht neben-, sondern miteinander im Dialog stehen, sich in einer wechselseitigen Beziehung gegenseitig befruchten und bereichern. Die Tagung »Robert Schumann: Das Spätwerk für Streicher« fand nicht isoliert, sondern auch als Teil des zeitgleich an der Musikhochschule stattfindenden »Festivals der Saiteninstrumente« statt; das Programm, ein Miteinander von Vorträgen, Konzerten und Gesprächen, offenbarte das Anliegen, Theorie und Praxis zu verbinden. Für beide Teile hatten die Verantwortlichen um Andreas Meyer vom Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik hochrangige Vertreter geladen wie Reinhard Kapp, Michael Struck oder Ute Bär; bei den Konzerten wirkten Professoren der Musikhochschule wie Andra Darzins, Judith Ingolfsson und Kolja Lessing mit.

Die Problematik der Frage, mit welcher Begründung man das »Spätwerk« Robert Schumanns als solches bezeichnen und vor allem zusammenfassen könne, legte Prof. Meyer zu Beginn dar: neben verbindenden biographischen Aspekten und der Tatsache, dass Schumann die Streichinstrumente gewissermaßen neu für sich entdeckte, sei die Einheit des »Spätwerkes« in musikalischer Hinsicht wegen der Vielfalt der Ausdruckscharaktere nicht offensichtlich. Dieser Frage weiter nachzugehen, sie aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten und partiell zu beantworten, sei der Auftrag an das Symposium.

So galt der erste Vortrag auch Schumann als Violinkomponisten. Reinhard Kapp aus Wien zeichnete ein umfassendes Bild von Robert Schumanns Bezug zu Streichinstrumenten, über die er durch langjährige Beobachtungen und Freundschaften zu Geigern ausführliche Kenntnisse besaß. Neben dem letzten Violinkonzert Kreutzers von 1810 als einer Art »Initialzündung« fungierten für Schumann Violinkonzerte Beethovens und Mendelssohns als Referenzwerke. Hinter den Violinkompositionen wie der Violinphantasie mit ihren »phantasievollen Vermeidungsstrategien« oder den Violinsonaten mit einer Geige als vollwertigem Partner zum Klavier sei, so Kapp, die Hauptfrage die nach der Idee vom Instrument, die ihnen allen zu Grunde liege.
Die konkrete Annäherung an das Schumann’sche Spätwerk geschah mit einem »Blick auf Schumann von heute aus« – Thomas Seedorf aus Karlsruhe lieferte eine Betrachtung des Schumann’schen Klaviertrios g-Moll op. 110, ausgehend von Wolfgang Rihm. Dieser, ein Komponist, der andere Komponisten auch »für sich selber wahrnimmt«, äußerte in den 1980er Jahren, Schumann sei »anders«. Seedorf zeigte einige Aspekte des Andersseins auf: das späte Trio sei einerseits »anders als sonst«, besitze gleichermaßen einen »fremden Ton«, auch sei Schumann in seinem Spätwerk »anders als er selbst«, was sich beispielsweise an den Unterschieden zwischen dem früheren d-Moll- und dem g-Moll-Klaviertrio zeige. Zudem müsse man Schumann anders als gewohnt wahrnehmen – hierbei sei der Blick von der Neuen Musik auf die Romantik gerade für die Interpretation eine große Chance.
Bezüge zu Schumanns Spätwerk für Streicher in Kompositionen der Jahrtausendwende beleuchtete Christina Richter-Ibánez aus Stuttgart, namentlich an György Kurtág, Heinz Holliger und Jörg Widmann. Während sich Kurtágs Werk »Hommage à R. Sch.« in erster Linie auf Schumanns »Märchenerzählungen« op. 132 bezieht und Holligers »Romancendres« (2003) eher biografisch-interpretierende Züge tragen in denen er sich vor allem mit dem Prozess der Verbrennung der Schumann’schen Celloromanzen durch Clara auseinandersetzt und schriftliche Zitate musikalisch integriert, ist Widmann derjenige, der musikalische Momente und Zitate gezielt streicherspezifisch auswählt. Aspekte wie »überdrehte Virtuosität«, tiefe Lagen oder unterschiedliche Tempi wandelt er in »Fieberphantasie« oder »Dunkle Saiten« in eine zeitgenössische musikalische Sprache um. Das erste Konzert folgte auf diese Vorträge, gewissermaßen die praktische Verknüpfung der gehörten Theorie mit der klingenden Praxis, in dem unter anderem die F.A.E.-Sonate von Dietrich, Brahms und Schumann und das Klaviertrio op. 110 g-Moll zu hören waren.

Ein weiterer Vortrags-Schwerpunkt galt den beiden Solowerken für Violine sowie dem Cellokonzert Schumanns. Siegfried Eipper aus Stuttgart untersuchte die Phantasie op. 131 im Hinblick auf die formale und inhaltliche Konzeption: Grund für die divergierenden Rezensionen von 1854 und 1856 – zunächst begeistert, dann negativ – sei hauptsächlich die dem Werk innewohnende »Ambivalenz«. Hierbei knüpfte er an die Beobachtungen Strucks an, indem er deutlich barocke Elemente in der Fantasie darlegte, die »barockisierenden Passagen« jedoch als funktionale Abschnitte in der Gesamtstruktur des Werkes identifizierte. Unabdingbar für den Interpreten, so die Folgerung, sei daher das Verständnis der formalen Anlage, ohne welches eine adäquate Darstellung der stilistischen Übergänge unmöglich sei. Diese Äußerungen sorgten für engagierte Diskussionen, in deren Verlauf auch Fragen nach dem Verhältnis zwischen Violinphantasie und -konzert sowie Orchester und Soloinstrument aufkamen.

Diese Frage beleuchtete auch Andreas Meyer in einem Vortrag über das Violinkonzert, in dem sich Orchester und Solist oft blockhaft gegenüberstehen. Dieses besondere Verhältnis – die Virtuosität des Orchesters, welche die des Solisten »ersetzt« – bietet Möglichkeiten für kulturgeschichtliche und politische Deutungen: Schumann als Vertreter der Republik und bürgerlichen Freiheit. Die mannigfaltige Kritik am Violinkonzert, besonders fundiert bei Joseph Joachim, der vor allem die »fehlende Entwicklung« beklagte, bietet eine Chance, andere Deutungen zuzulassen: Im ästhetischen zeigt sich auch ein soziales Modell. Stagnierende Momente legen trotzdem auch einen biographischen Aspekt, Schumanns zunehmenden »Kontaktverlust«, nahe.
Heinz von Loesch aus Berlin ging konkret auf das schon oft erwähnte Violinkonzert Mendelssohns ein und verglich die Konzeption dessen Virtuosität mit der im Cellokonzert von Schumann. Ausgangspunkt dafür waren Verbesserungsvorschläge des Cellisten Robert Bockemühl, der gar eine Neukomposition des letzten Satzes vorgeschlagen hatte. Ein Vergleich der beiden Werke machte deutlich: Die Orchesterbegleitung der Solokadenz im Cellokonzert, der das Orchester umfassende Tonumfang im Cello, die großen technischen Schwierigkeiten für den Solisten, die enge »Verzahnung« von Orchester und Soloinstrument, verbunden mit einer Umkehrung der Hierarchie, sind deutliche Zeichen dafür, dass Schumanns Ziel die »satztechnische Integration«, vielleicht sogar die »Umdefinition« des Virtuosen war.

Zwei studentische Beiträge von Johannes Zimmermann und Bernhard Schwarz befassten sich mit dem »Denkmalsturz« Mendelssohns durch die Nationalsozialisten, verbunden mit der Aufführung von Schumanns Violinkonzert als »Platzhalter«, und der Frage nach dem »Geisterthema« in den Geistervariationen. Johannes Zimmermann stellte die Entwicklung des Antisemitismus in der Musik, angefangen von Richard Wagner bis hin zum Austausch des Konzertkanons 1837 dar; Bernhard Schwarz zeichnete einen möglichen Entstehungsprozess des Geisterthemas in eigenen Werken Schumanns vom Streichquartett op. 41 Nr. 2 über das Lied »Frühlings Ankunft« bis hin zum Stück »Vogel als Prophet« der Waldszenen op. 82 dar.
Ein weiterer Themenblock befasste sich vornehmlich mit der Frage der Edition und Überlieferung von Schumanns Violinsonaten. Ute Bär aus Zwickau erläuterte Vorgehensweisen bei der Edition der Violinsonaten op. 105 und op. 121 in der Neuen Schumann-Gesamtausgabe, wie beispielsweise das Aufgreifen unterschiedlicher Lesarten oder die detaillierte Dokumentation von offenen Fragen beim Editionsprozess. Zu offenen Fragen zur dritten Violinsonate äußerte sich Michael Struck aus Kiel, indem er besonders auf die schwierige Quellenlage auf Grund vieler verschollener überarbeiteter Manuskripte einging. Ebenso wurde die Problematik der Reihenfolge von zweitem und drittem Satz anschaulich, wobei Struck sich auf Grund philologischer und analytischer Argumente für die Reihenfolge Intermezzo – Scherzo aussprach. Im Anschluss stand wieder die Praxis im Vordergrund: Im Rahmen eines Lecture-Recitals spielte und erläuterte Kolja Lessing die Violinsonaten Nr. 2 und 3.

Ebenso standen der Diskurs zwischen Interpreten und Wissenschaftlern am nächsten Tag im Fokus: Der »Vormittag für die Märchenerzählungen« begann zunächst mit Vorträgen über die Theorie der Interpretationsanalyse von Hans-Joachim Hinrichsen aus Zürich und zur möglichen Aufführungspraxis im 19. Jahrhundert von Tobias Pfleger aus Karlsruhe. Hans-Joachim Hinrichsen hob besonders die wechselseitige Beziehung zwischen der Interpretationsanalyse im Sinne einer Werktextanalyse zur Ermöglichung einer angemessenen Realisierung einerseits und der Interpretation andererseits hervor: So sehr wie die Analyse die interpretierende Aufführung zum Ziel hat, so sehr braucht die Interpretation die Analyse als Hintergrund, nicht um vorgefertigte Lösungen nachzuahmen, sondern um im Bewusstsein der Konsequenzen Interpretationsalternativen zu wählen oder zu verwerfen. Anhand eines konkreten Beispieles wurde deutlich, wie beide Aspekte zusammenhängen: Ein einziges Diminuendo im 1. Satz der Märchenerzählungen kann entweder dynamisch oder agogisch aufgefasst werden – die Entscheidung hat unterschiedliche Konsequenzen für die Struktur des Stückes, die entweder als A-B-A’- oder als dreiteilige Strophenform aufgefasst werden kann. Ergänzend dazu erläuterte Tobias Pfleger wesentliche Aspekte der Aufführungspraxis des 19. Jahrhunderts, sowohl aus schriftlichen Quellen wie Violinschulen Spohrs als auch anhand historischer Tondokumente. Aus Quellen geht hervor, dass die Notation eher als eine »Sonderform der ›Nicht-Notation‹« anzusehen ist. Verschiedene Akzente lassen sich hierarchisieren, doch Fragen nach der Intensität von Techniken wie Portamento oder Vibrato liegen hauptsächlich in der Verantwortung der Interpreten.

Dies wurde auch im sich anschließenden »Roundtable« von Norbert Kaiser (Klarinette) und Andra Darzins (Viola) bestätigt, welche verschiedene musikalische Parameter wie Klangfarbe, Agogik oder Artikulation anhand konkreter Beispiele aus den »Märchenerzählungen« demonstrierten. Beide hoben hervor, dass es am Ende an der Musizierpraxis des Interpreten und seinem Gespür für die musikalische Sprache des Komponisten liegt, wie und in welchem Maße diese Parameter bedient werden. Weder auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beharrende Vorschriften noch eine ignorante Eigeninterpretation diesen einer richtigen und guten Aufführung und somit der Musik selber – die goldene Mitte liegt dazwischen, darüber waren sich alle Teilnehmer einig.

Den Abschluss bildet die musikalische Darbietung der »Märchenerzählungen« durch Norbert Kaiser, Andra Darzins und Hsiao Yen-Chen. Der letzte Tag des Symposiums als ein »einmaliges Live-Erlebnis«, ein gelungenes »Experiment im schönsten Sinne des Wortes«, wie es Andreas Meyer angekündigt hatte, stellte eine gelungene Abrundung einer informativen und diskursreichen musikwissenschaftlichen Tagung dar, an der vor allem eines deutlich wurde: Theorie und Praxis, Wissenschaft und Kunst kommen erst im Miteinander zu ihrer vollen Entfaltung, auch und gerade bei einem so vielschichtigen Thema wie dem Spätwerk für Streicher von Robert Schumann.

[Eva-Magdalena Dietrich]

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