Von bösen Liedern

Der Tagesspiegel Nr. 19258
vom 23.07.2006 Seite S07

Die Geschichte

Robert Schumann und Heinrich Heine starben vor 150 Jahren: Der Komponist am 29.Juli 1856 in einer Irrenanstalt bei Bonn, der Dichter in Paris. Was diese beiden letzten Romantiker verbindet.

Von Kerstin Decker

Ein Mann in geblümtem Schlafrock geht in strömendem Regen zum Fluss. Er will auf die Alte Rheinbrücke. Niemand hält ihn auf, normaler als er kann man nicht aussehen. Es ist Karneval in Düsseldorf, Rosenmontag. Aber er erträgt die Masken nicht mehr. Er ist der einzige Unmaskierte. Er hat nur noch sein eigenes Gesicht. Der Schlafrockmann schiebt den schweren Körper über das Geländer. Er weiß, was jetzt gleich passiert, er hat es oft erlebt: "Mir träumte, ich wäre im Rhein ertrunken..." Er lässt sich fallen. Ein paar Narren ziehen ihn aus dem Fluss. Lachen sie über ihn, oder können sie nur einfach nicht aufhören? Einer erkennt ihn: Das ist unser Musikdirektor! Es ist Robert Schumann in der Heimatstadt Heinrich Heines, zwei Jahre vor seinem Tod.

1856. Sie teilen dasselbe Todesjahr, ein deutscher Dichter und ein deutscher Musiker. Heines "Buch der Lieder" wird die erfolgreichste Gedichtsammlung des 19.Jahrhunderts, aber erst die Musiker haben Heines Lieder wirklich zu Weltruhm gebracht, vor allem Robert Schumann. Er ist zwölf Jahre jünger als Heine. n seinem vielleicht glücklichsten Jahr komponiert Schumann Heines Lieder des Unglücks. Er schickt die ersten an den Wahlpariser. Der antwortet nie. Warum?

Heine und Schumann. Eine Spurensuche.

Heinrich Heine war der erste große Städte-Beleidiger, aber an Düsseldorf hat er nur Liebeserklärungen gerichtet. Robert Schumann ist dort sehr unglücklich gewesen zuletzt. Das Düsseldorfer Orchester gelangte bald zu der Ansicht, ob dieser Dirigent oder gar kein Dirigent, das sei ein und dasselbe. Die Musiker kamen zur Probe, wann sie wollten, und spielten, wie sie wollten. Als wäre er gar nicht da. Sie sahen, wie ihrem Direktor das Orchester ständig vor Augen wegschwamm. Der kranke Mann konnte es nicht festhalten.

"Ich bin des freien Rheins weit freierer Sohn", hatte Heine über den Fluss seiner Kindheit gesagt. Der Rhein war ihm ein anderes Wort für Heimat. Robert Schumann aus Zwickau hatte eben noch die "Rheinische Sinfonie" komponiert, aber der Fluss macht ihn nicht mehr ruhig. "Mir träumte, ich wäre im Rhein ertrunken". Das notierte er schon 1829. Nun ist er wirklich gesprungen.

Schumann schlägt die Hände vors Gesicht, als man ihn nach Hause führt. Er schläft noch einmal bei Clara und den Kindern, er schläft mehr als einen Tag lang, dann wird er an den Ort für die Narren gebracht, für die der Karneval nie mehr aufhört. Am 4.März 1854 trifft er im Irrenhaus von Endenich ein. Er stirbt dort am 29.Juli 1856 - wohl vor Hunger und Durst. Schumann glaubte schon lange, dass man ihm Essen und Wein vergiftet. Zuletzt verweigerte er alles.

Vielleicht teilen Heine und Schumann nicht nur das Todesjahr, sondern auch die Krankheit, an der sie sterben, die Syphilis. Und wenn es wahr ist, was manche Schumann-Biografen sagen, war der Abend von Schumanns Ansteckung zugleich ein Heine-Abend.

1831, das Jahr, als Heine Deutschland für immer verlässt. Christel, die neue Kellnerin in Leipzigs "Coffeebaum" ist eine große Heine-Leserin. Sie folgt Schumann bald in seine Wohnung. Er hat noch nie mit einer Frau geschlafen. Christel ändert das, und nach der Art zu urteilen, wie sie es tut, hat sie in ihrem Leben nicht nur Heine-Gedichte gelesen und Bierkrüge verteilt. Als beide wieder ruhiger atmen - heißt es -, lesen sie im "Buch der Lieder".

"Ich hab im Traum geweinet,
Mir träumte, du lägest im Grab.
Ich wachte auf, und die Träne
Floß noch von der Wange herab."

Dieses Gedicht hat sie am liebsten. Sie sagt, es ist ihr Gedicht. Später wird er ihm Noten geben. In seinem Tagebuch nennt er Christel nur Charitas.

Schumann weiß lange nicht, ob er Dichter werden soll oder Musiker. Jurist!, fordert Schumanns Mutter. Jurist!, hatte auch Heines Mutter gesagt. Das Rechtswesen interessiert Schumann ungefähr so wie Heine, also eher gar nicht. Und doch gibt es Unterschiede: Heine ist irgendwann Doktor der Jurisprudenz. Robert Schumann, sagt sein bester Freund, hat in Leipzig nie einen Hörsaal dieser Fakultät von innen gesehen.

Dichten und komponieren sind hörsaalfremde Tätigkeiten. Der Schutzheilige seiner Jugend war Jean Paul, doch Schumann kann ihn nicht mehr fragen, was aus ihm werden soll. Jean Paul ist tot, aber Heine lebt! Ein Verwandter kennt jemanden, der jemanden kennt, der Heine kennt. Robert Schumann ist 17, er hat sein Abitur bestanden, darf zur Belohnung eine Reise machen und besitzt ein Empfehlungsschreiben an Heine. Eine "Geniereise" soll es werden. Zuerst pilgert er an das Grab Jean Pauls in Bayreuth, dann fährt er weiter nach München. Dort ist Heine Redakteur bei Cottas "Neuen Politischen Annalen".

Soeben ist das "Buch der Lieder" erschienen. Aber mit der erfolgreichsten Lyriksammlung der Weltgeschichte verhält es sich noch so wie vom Verleger erwartet: Sie liegt bleischwer in den Regalen. Erst zehn Jahre später wird das "Buch der Lieder" von Auflage zu Auflage eilen.

Schumann hat ein bisschen Angst vor Heine. Er hat wie so viele die "Reisebilder" gelesen. Die "Reisebilder" haben Heine berühmt gemacht.Was für ein nie gehörter Ton! Welch schneidende Ironie!Welch bittere Satire! Und wenn der Autor nun genauso ist wie seine Bücher? Heine, der eben noch glaubte, am Münchner Klima auf der Stelle sterben zu müssen, öffnet mit einer gewinnenden Geste seine Tür im Rechbergschen Palais.Schumann wird es später Heines "Frühlingswohnung" nennen.

Heine findet es gut, dass nicht nur immer er mit Empfehlungsschreiben vor fremden Türen steht, sondern dass man nun schon mit Empfehlungsschreiben zu ihm kommt. Er zeigt Schumann München. Der Siebzehnjährige denkt gerade viel über die Musik, die Dichtung, die Seele und den Traum nach und darüber, wie alles zusammenhängt: "Das physische Träumen ist das Wachen der Seele, wie das physische Wachen das Träumen der Seele ist."Und was sind Töne?" Töne sind verschleyerte Venusformen; wir sehen sie durch den Schleyer lächeln; aber wir dürfen den Schleyer nicht heben." Das, nichts anderes, sei Kunst. Heine schreibt, als ob er das wüsste. Ein Venusformen-Experte. Aber jetzt redet er und redet, über alles, was nicht annähernd Venusform ist, über Billard zum Beispiel. Und dann hat Heine eine Idee: Ob er Schumann den Feldstuhl Napoleons zeigen soll in der Leuchtenbergischen Galerie? Das sei zwar nur ein kleiner Sessel - aber was für ein Exponat! Des Kaisers Hintern persönlich hat dieser Sessel gekannt. Der Inbegriff einer Nicht-Venusform! Bei allen Schlachten war der Sessel dabei, bei Siegen und Niederlagen. Sie gehen in die Leuchtenbergische Galerie. Heine und Schumann betrachten gemeinsam den Gegenstand auf Erden, der wie kein anderer den Kaiser von unten gekannt hat. Schumann weiß nicht, ob er lachen soll. Er blickt auf Heine. Der ist vollkommen ernst, in Ehrfurcht versunken. Diese Ironiker, denkt Schumann, sind doch eine merkwürdige Spezies.

Ironie ist die Kunst, alles mit Abstand zu betrachten, vor allem das, zu dem man gar keinen Abstand hat. Die Liebe etwa. Oder den Tod. Oder Gott. Heine spricht mit dem "Autor des Himmels" (Heine) von Jugend an als Kollege unter Kollegen. Wir Schöpfer! Heine ist auch der erste Großironiker der Liebe. Dem ist nichts ernst, der vermutet sofort die Mittelmäßigkeit. Der würfelt mit seiner eigenen Seele! Man versteht nicht, dass dieses Nicht-Ernstnehmen manchmal doppelt so ernst nimmt. Dass es die einzige Möglichkeit für ihn ist, sich selbst zu überleben. Schumann begreift es gut.

"Aus meinen großen Schmerzen mach ich die kleinen Lieder." Heine sagt Lieder, nicht Gedichte. Musik ist ja schon der Rhythmus der Worte. Schumann spürt auch das. Romantische Kunst will die Genregrenzen aufheben. Musik soll Sprache werden, Sprache soll Musik werden. Poesie und Tonkunst haben doch den gleichen Ursprung, findet Schumann. Dichter oder Musiker? Und dann ist alles ganz einfach: "Jeder Tonkünstler ist ein Dichter, nur ein höherer."

Er könnte Klaviervirtuose werden. Virtuosen sind die Popstars der Zeit. Schumann hat Paganini erlebt, genau wie Heine.Aber da ist bald ein kleines Hindernis. Im Jahr 1832 klagt er über den tauben dritten Finger der rechten Hand. Es fängt nicht gut an: ein Virtuose mit gelähmtem Finger. Und Heinrich Heine in Frankreich schreibt zur selben Zeit (!) einem Freund: "Ich bin jetzt ein fleißiger Besucher der Oper, ein Anhänger von Ludwig Philipp, meine Backen sind rot, zwei Finger der linken Hand sind gelähmt, ich trage helle Röcke und bunte Westen." Noch kann man es überlesen, noch soll man es überlesen.

Komponieren kann man notfalls auch ohne Hände. Schumanns Stücke springen aus dem Formenkanon heraus, am besten, er nennt sie "Fantasie". Schon der erste Satz der Fantasie op.17 sprengt die klassische Sonatenform. Aber Lieder zu komponieren, findet der Ex-Virtuose, ist keine Kunst. Er macht das nicht. Obwohl er Schuberts Lieder mag und bewundert. Obwohl er Trost findet bei den Dichtern. Wie überlebt man sich selber?

Immer wieder hat er das Heine-Problem. Und nun ist auch noch das geschehen, womit er nie gerechnet hätte. Das Kind seines Lehrers, dieses Automaten-Püppchen am Klavier, ist kein Püppchen mehr. Es ist - er weiß nicht was. Und dann weiß er es doch. Beide wissen es irgendwann. Leider auch Vater Wieck. Es wird eine sehr schwere Zeit. An ihrem 18.Geburtstag überreicht die europaweit gefeierte Klaviervirtuosin Clara Wieck ihrem Vater Schumanns Heiratsantrag. Niemals!, sagt der Alte. Schumann ist wie gelähmt von dem Zwist. Vorher war er gelähmt vom Warten. Manchmal ist er auch gelähmt von sich selbst. Wer kann so arbeiten? Was entsteht, entsteht als ein Trotzdem.

Im Sommer 1839 erhält das Leipziger Appellationsgericht einen merkwürdigen Antrag. Es ist ein Heiratsantrag.Schumann hat nicht umsonst Jura studiert - oder sagen wir richtiger: er hat sich nicht umsonst an dieser Fakultät immatrikulieren lassen - er wird die Ehe jetzt gerichtlich durchsetzen. Vater Wieck wehrt sich. Er verfasst ein umfängliches Porträt Robert Schumanns. "Träge" und "unzuverlässig" sei er, "kindisch, unmännlich", "für das sociale Leben völlig verloren". Und die Musik? Seine "unklaren und kaum auszuführenden Klaviercompositionen" offenbarten das "Fehlen eines soliden Studiums". Zudem sei Schumann der "Neigung zum Trunke ergeben". Wer kann so arbeiten? Was weiß Wieck denn vom Trunke, von seiner Angst, ganze Flüsse austrinken zu müssen. Er träumt wieder, im Rhein zu ertrinken. Nie in Leipzigs Pleiße, immer im Rhein, einmal auch in der Donau. Heine kennt das. Er trinkt zwar nicht, aber er ist ein Dichter: "Der Hals ist mir trocken, als hätt ich verschluckt/ Die untergehende Sonne/ Herr Wirth! Herr Wirth! eine Falsche Wein/ Aus Eurer besten Tonne."

Ende des Jahres schließt Schumann sich tagelang ein. Allein mit seiner schwärzesten Melancholie. Und dann, Anfang 1840, passiert es. Es komponiert in ihm und hört nicht mehr auf. Und immer nur Lieder. "Seit gestern früh habe ich gegen 27 Seiten Musik niedergeschrieben", erfährt Clara im Februar. Und das ist noch lange nicht zu Ende. Er vertont Eichendorff, Rückert, Chamisso und andere. Aber vor allem komponiert er Heine, gleich in zwei Zyklen.

Welche Gedichte wählt er? Heine war einer der frechsten Dichter, oder sagen wir: er war der Erste der frechen Dichter. Schumann nimmt nicht die allerfrechsten Lieder, auch nicht die allerschwärzesten. Er nimmt die mit viel Rosen, Mond und Nachtigallen. "Rosen, Mond und Nachtigallenfrikassee", kommentiert der Dichter bald sich selbst. Aber die ganze Botanik, Singvogel- und Himmelskörperkunde ist doch nur Bühnenbild, Hintergrund für die Verlorenheit des Ich und den großen Sehnsuchtston. Der klingt in Schumann. Der hat bei Heine oft eine große Bitterkeit; die gibt es bei Schumann nicht. Er ist kein Entsagender mehr, er ist ein Erwartender. Er fühlt, dass Wieck verlieren wird. Schumann nimmt keines der Gedichte, in denen die Liebste kalt und herzlos ist. Clara ist nicht kalt und herzlos. Amalie, Heines vergeblich geliebte Cousine, die Millionärstochter, ist nicht Clara.

Am 1.August 1840 erteilt das Leipziger Gericht Robert Schumann und Clara Wieck den Ehekonsens.Am 12.September werden sie in Schönefeld bei Leipzig getraut. Ende des Jahres hat Robert Schumann 138 Lieder komponiert. Noch einmal das Alleinsein, noch einmal die Fremde, die große Sehnsucht - aber schon fast wie im Rückblick, schon versöhnend. Wie man vom sicheren Hafen aus noch einmal auf das wilde Meer sieht. Schönheit als Einverständnis. Als Versöhnung.

Wenn Schumann Heine vertont, kommt Schumann heraus. Das ist, was Hegel Liebe nannte: im anderen bei sich selber sein. Doch die Schumann-Experten nach 1933 sind keine Liebenden mehr, sie sind Hassende. Und sie hören genau: Heines Eigenton ist anders, er ist noch dissonanter. Voller unverhoffter Kältepole. Ein "deutscher" Komponist hat Noten gemacht zu "nichtarischen Texten". Kann man die "nichtarischen" Texte vielleicht weglassen? Kann man nicht. Die nationalsozialistischen Musikwissenschaftler formulieren: Schumann habe das "Zersetzende" Heines, dessen Frivolität, die ganze jüdische "Lügenpoesie" aufgehoben in seine deutsche "Reinheit", "Keuschheit" und "Innigkeit". Dabei: wie ironisch, wie böse sind manchmal auch diese Lieder. Und vor allem: Die Musik ist nie bloß Begleitung, sie fängt ein Gespräch an mit den Worten.

Schumann wartet noch immer auf Antwort von Heine. Dann würde er ihm auch die "Dichterliebe" schicken, diesen Höhepunkt des romantischen Liedes. Aber es kommt keine Antwort.

Schuld ist wohl Meyerbeer. Heine hatte die Uraufführung von Meyerbeers "Hugenotten" 1836 in Paris gesehen und gejubelt: Das ist das Größte und Meyerbeer ist der größte aller Komponisten! Ein Satz, der jedem Auch-Komponisten tief missfallen musste. Schumann sah die "Hugenotten" ein Jahr später und befand in seiner eigenen Musikzeitschrift aus tiefstem Herzen: Das ist ja nun das Allerletzte! Etwas später veröffentlichte eben diese "Neue Zeitschrift für Musik" sechs "Vertraute Briefe. An den Dichter Heinrich Heine in Paris". arin stand - überdeutlich zwischen und in den Zeilen -, dass Herr Heinrich Heine in Paris keine Ahnung habe von Musik. Nein, der gekränkte Musikkritiker Heine hat Schumann nicht geantwortet, der seine Lieder so vertonte wie Meyerbeer es nie gekonnt hätte.

Zum Weiterhören:

Zwei wunderbare Interpretationen von Peter Schreier, aufgenommen im Abstand von 27 Jahren: Robert Schumann, Dichterliebe op. 48 u. a., mit Norman Shetler am Klavier (1975), CCC, bei Saturn 2,99 Euro - und mit András Schiff am Klavier, auch Liederkreis op.24 (2002), ORFEO, bei Dussmann 12,99 Euro

 

 

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