Jan Brachmann zu Ole Bull

Nachbarin, euer Fläschchen!
Der Teufelsgeiger Ole Bull ist in Norwegen ein Nationalheld. Komponiert hat er auch

In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. Juli 2010, Nr. 169, Seite 39
Er hat Frauen bezahlt fürs Ohnmächtig-Werden. In der ersten Reihe des Parketts standen sie bei seinen Konzerten und sanken zusammen wenn er spielte. Dann konnte er, der große norwegische Geiger Ole Bull (das ist auch wörtlich zu nehmen: er maß 1,82) seinen kristallenen Riechsalzflakon aus der Wespentaillentasche ziehen und die Gesunkene beträufeln, bis sie den Unvergleichlichen wieder anhimmelte. Als Reklameschrift ließ er seine Biographie verfassen und verbreiten, versehen mit seinem lithographierten Konterfei, bevor er auf England-Tournee ging. Und ganz neue Formen des Merchandisings ersann er für die Konzertreisen nach Amerika: Seife mit eingraviertem Autogramm.

Ole Bull (sprich: Uhle Büll) war unbestritten ein Pionier des Marketings. Aber er hat auch wirklich etwas gekonnt. Robert Schumann, in dessen Leipziger Haus er zu Gast war, hält ihn für den größten Geiger seit Paganini. Hector Berlioz schwärmt 1836 in Paris, dass keiner vor Bull je diese natürliche Eleganz des Spiels, eine solche Wärme und Originalität besessen habe. Franz Liszt rast in einem Brief an seine Geliebte Marie d’Agoult vor Begeisterung, er erklärt ihr, so einen wie Bull gäbe es kein zweites Mal in Europa. Und noch der Brahms-Freund Meistergeiger Joseph Joachim meinte 1860, niemand habe Melodien so ergreifend spielen können wie Ole Bull. Dieses Wunderwesen gehört, wie seine Freunde Chopin und Schumann, dem Musikerjahrgang 1810 an: Am fünften Februar hat man in Norwegen seinen 200. Geburtstag gefeiert.

Für die Norweger gilt Ole Bull als Nationalheld. Bei der Pariser Revolution 1848 hatte er sich eigenmächtig zum Botschafter Norwegens in Frankreich ernannt, obwohl sein Land damals noch zu Schweden gehörte. Mit seinem vielen Geld gründete Bull dann in Bergen das erste norwegische Theater, an dem Aufführungen in der Landessprache stattfanden, er verpflichtete 1851 den jungen Henrik Ibsen als Regisseur und Hausautor. In den Vereinigten Staaten hatte er sich als Oberhaupt einer eigenen Kolonie namens „Oleana“ versucht. Und als Sechsundsechzigjähriger löste er ein waghalsiges Versprechen ein und spielte, auf der Spitze der Cheopspyramide im ägyptischen Gizeh stehend, seine Fantasie über norwegische Volksweisen „Et Sæterbesøg“ (Ein Almbesuch).

Dieses Stück, mit imitiertem Herdengeläut, Vogelzwitschern und herzhaften Bauerntänzen, kann man jetzt auf einer CD hören, die erstmals auch zwei von Bull komponierte Violinkonzerte vorstellt. Durch die emsige Forschungsarbeit des Osloer Musikhistorikers Harald Herresthal, der gerade eine vierbändige Bull-Biographie vorgelegt hat, ist viel verstreutes Notenmaterial wieder zusammengekommen, das der Geiger Annar Follesø zusammen mit dem Norwegischen Rundfunkorchester unter der Leitung von Ole Kristian Ruud aufgriff. Das Konzert a-moll und das Concerto fantastico sind typische Virtuosenstücke, also so ähnlich gebaut wie ein James-Bond-Film: Sie leben vom hormonellen Kontrast aus Adrenalin und Dopamin, Stress und Belohnung, explodierenden Autos und Nackedei-Szenen, und es gibt harte Schnitte zwischen temporeichen Technik-Stunts und begehrlich girrender Lyrik. Auf schlüssige Formen kommt es dabei nicht an, nur darauf, in jedem Augenblick zu fesseln.

Man muss Schumann Recht geben, wenn er schreibt, dass Bull „kein produktives Talent erster Größe“ gewesen sei, mithin als Komponisten nicht den gleichen Rang hatte wie als Geiger. Doch da jeweilige Material ist toll, es ist viel besser als, zum Beispiel, bei Paganini. Bulls lyrische Einfälle würden jedem Chopin-Nocturne zur Ehre gereichen mit ihrem melodischen Schmelz, ihrer schattierungsreichen Harmonik. Wie Chopin war auch er fasziniert von der Mezzosopranistin Maria Malibran, die er auf einer Italien-Tournee begleitet hatte. Von ihr soll er eine Eigenart übernommen haben, die für Geiger damals unüblich war und die manchen Originalklangideologen erst Fritz Kreisler anlasten: das Dauervibrato. Es ließ so manche Dame in Ohnmacht fallen, auch wenn sie kein Geld dafür bekommen hatte.

Was die Griff- und Bogentechnik angeht, ist Bull neben Paganini der einzige Geiger, dem im 19. Jahrhundert noch Neues einfiel. Mehrstimmige Tremoli werden oft verlangt in seinen Stücken, auch Echowirkungen durch Flageolett. Bull selbst hatte den Steg seiner Geige flacher zurechtgefeilt nach dem Vorbild der norwegischen Hardangerfiedel. So vermochte er durchgängig vierstimmig zu spielen, wo Paganini es nur auf drei Stimmen gebracht hatte. Das Londoner Publikum versetzte der Norweger einmal in besinnungslosen Taumel durch „God save the Queen“, in komplett vierstimmigen Satz, gespielt auf einer einzigen Geige.

Musikalisch gewinnender als die beiden Konzerte sind die folkloristischen Stücke, die auf diesem Album enthalten sind, wie „Hirtenmädchens Sonntag“, „Einsame Stunde“ oder der erwähnte „Almbesuch“. Hier ist der Anfang der nationalen Schule Norwegens zu finden, an dem Edvard Grieg, von Bull aufmerksam gefördert, anknüpfen konnte. Und „La Verbena de San Juan“, von Ole Bull 1846 in Madrid für Königin Isabella II. geschrieben, dürfte die lustige Urmutter aller Spanien-Rhapsodien sein.

Interpretatorisch ist die Orchesterleistung sehr sonor, durchaus stimmungsvoll, wobei man nicht versteht, warum Johan Hallvorsens zarte Instrumentierung der „Einsamen Stunde“ von Wolfgang Plagge durch viel Blech aufgedonnert werden musste. Der Geiger Annar Fellesø ist ein technisch souveräner Feingeist, von dem man sich mehr Verwegenheit wünschte. Der junge Norweger Henning Kraggerud, der vor vier Jahren in einem Film von Aslak Arhus namens „Ole Bull – Himmelstormeren“ die Titelrolle spielte, wäre da mit seinem kraftvollen Ton und seiner spielerischen Phantasie ein passenderes Temperament gewesen.

Doch ein schöner Anfang ist hiermit gemacht, um eine Figur in Deutschland auch musikalisch-diskographisch bekannt zu machen, die Chopins Liebhaberin George Sand als Vorbild für ihren Roman „Malgré tout“ gedient hatte und Henrik Ibsen als Anregung für den Titelhelden in „Peer Gynt“. Wer zufällig im Sommer nach Bergen kommt, der sollte unbedingt mit Bus und Boot nach Lysøen fahren, der Fjord-Insel mit dem Haus von Ole Bull, einer hölzernen Alhambra, die wohl die flamboyanteste Komponisten-Residenz der ganzen Welt darstellt.

Jan Brachmann


Ole Bull, Sæterjentens Søndag, Concerto a-Moll, Concerto Fantastico, I Ensomme Stunde, La Verbena de San Juan Et Sæterbesøg. Annar Follesø, Norwegisches Rundfunkorchester, Ole Kristian Ruud. „2L“ 067 (Naxos)

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