Rezensionen einer Aufführung

Die "Faust-Szenen" von Robert Schumann in der Interpretation von Nikolaus Harnoncourt bei der Styriarte 2006

"Der Standard" vom 26.06.2006 Seite: 26 Ressort: Kultur


Überdimensionale Chor-Symphonie
Harnoncourt eröffnete die "styriarte" in Graz

Peter Stalder


Graz - Leicht machte es sich Robert Schumann mit dem Faust-Stoff
nicht gerade, interessierte er sich doch in erster Linie für den
zweiten Teil der Goetheschen Dichtung. Und um dessen schwer
ergründliche Transzendenz machten die meisten seiner Musikerkollegen
einen großen Bogen.

Beinahe ein Jahrzehnt rang Schumann selbstzweiflerisch mit dieser
Partitur, und was als Oper hätte herauskommen sollen, geriet
schließlich zu einem eigenwilligen Konglomerat zwischen literarischer
Kantate, weltlichem Oratorium und überdimensionaler Chor-Symphonie
mit Erlösungsapotheose.

Vielleicht spielt Nikolaus Harnoncourt ja auf diese rätselhafte
Schlussszene an, in der Fausts erlöste Seele in das Reich der Seligen
geführt wird, wenn er die Faust-Szenen als Opus summum von Schumann
rühmt. Aber eine Herzensangelegenheit ist ihm der visionäre
Romantiker ja stets gewesen, und wenn er sich zum Auftakt der
styriarte diese Partitur aufs Pult gelegt hat, ist dies in zweierlei
Hinsicht nur folgerichtig. Zum einen betrat der Dirigent die Grazer
Podien immer wieder als glühender Anwalt des unbekannten und vor
allem missverstandenen Dramatikers Schumann (Genoveva, Das Paradies
und die Peri), und zum anderen ist heuer ja auch Schumann-Gedenkjahr.
Hand aufs Herz: Haben Sie es wahrgenommen?

Seinen ihm gebührenden Platz in den Konzertsälen hat dieses
Erlösungsdrama noch lange nicht erobert. Dabei gäbe es ein Werk
voller exaltierter Dramatik, bisweilen grotesker Komik (Lemurenchor),
schwelgerischer Melodik und farbenfroher Klangsinnlichkeit zu
entdecken, die Harnoncourt den souverän aufspielenden Musikern des
Chamber Orchestra of Europe mit weit ausholenden Gesten zu entlocken
wusste.

Exzellent das Sängerensemble: allen voran der lyrische Bariton
Christian Gerhaher, der den Faust zwischen irdischer Vulnerabilität
und Hoffen auf Erlösung bis in die kleinste Silbe mit stupender
Artikulationskultur und Stimmqualität gestaltet. Ihm zur Seite die
jugendlich-strahlende Sopranstimme von Annette Dasch als Gretchen und
der imposante Bass Alastair Miles als viril-dämonischer Mephisto.
Bestens besetzt auch die übrigen Solopartien: Bernard Richter, Mojca
Erdmann, Elisabeth von Magnus, Birgit Remmert und Georg Zeppenfeld.

Hinsichtlich Textverständlichkeit und Intonation blendend
disponiert zeigten sich der Arnold Schoenberg Chor und die Grazer
Keplerspatzen. Endlich glückliches Ende: Das Publikum feierte diese
faustische Begebenheit begeistert!


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"Neue Kronen-Zeitung" vom 25.06.2006 Seite: 60

Hochromantisches Seelengemälde

Auftakt zur "styriarte" in Graz mit Schumanns "Faust-Szenen" und
Harnoncourt:

VON MARTIN GASSER

Sie gelten als heikel und werden nicht allzu oft gespielt. Umso erfreulicher, dass Nikolaus Harnoncourt für sein erstes Konzert bei der diesjährigen "styriarte" Robert Schumanns "Szenen aus Goethes Faust" wählte. Dem Dirigenten gelang im Grazer Stefaniensaal eine
exemplarische Interpretation von Schumanns größtem Chorwerk - ein feinnerviges Seelengemälde in schillernden Farben.

60 Jahre bevor Gustav Mahler sich in seiner Symphonie der Tausend an der Vertonung des rätselhaften Finales von Goethes "Faust II" versuchte und herrlichen spätromantischen Pomp hervorbrachte, wagte sich Robert Schumann an die Verklärung des ewig Suchenden. Dass Nikolaus Harnoncourts Begeisterung für die "Szenen aus Goethes Faust" keine Grenzen zu
kennen scheint, sagt für sich schon einiges über die Qualität dieser Musik aus. "Hier werden psychische Vorgänge beleuchtet, durchschaut und erkannt, wie es mir in keiner anderen Zeit bekannt und in der Kunst ausgedrückt ist. Ich weiß nicht, ob es ein anderes Werk in der
Musik gibt, wo das noch radikaler und großartiger dargestellt wird als in diesen Szenen", erklärte Harnoncourt im Vorfeld. Wenn diese Funken dirigentischer Begeisterung auf die Interpretation überzuspringen vermögen, dann klingt Schumann so aufregend und packend wie bei der Eröffnung der "styriarte" im Grazer Stefaniensaal.

Harnoncourt verwandelt das weltliche Oratorium tatsächlich in ein Klangtheater der Seelenzustände. Die nervöse Spannung der sinistren Ouvertüre treffen der Dirigent und das Chamber Orchestra of Europe punktgenau. Die Sängerbegleitung ist aufmerksam, farbig, voller Innenspannung. Die durchkomponierten Gretchen-Szenen tönen wie eine Alternative zu Wagners Musikdrama. Wie Mephistopheles und das Orchester Gretchen in der Dom-Szene quasi überrollen, macht Harnoncourt in unerbittlicher Deutlichkeit hörbar. Der dramaturgisch
merkwürdige dritte, mystische Teil mit seinem schier endlosen Fließen und Strömen bis zur Erlösung im Zustand des Friedens und der Erschöpfung wird mit großer Sogkraft umgesetzt.

Aus dem homogenen Sängerensemble ragt Bariton Christian Gerhaher hervor, der mit dem Faust eine Paraderolle gefunden hat. Gerhaher lässt tief ins faustische Seelenleben blicken, bringt Zerrissenheit und verzweifeltes Ringen zum Ausdruck. Dem erfahrenen Liedsänger
stehen enorme dramatische Reserven ebenso zu Gebote wie herrlicher Mezzavoce-Gesang.

Mephistopheles Alastair Miles hat keinen allzu voluminösen Bass, aber viel gestalterische Souveränität, die diese aus purer Bösartigkeit bestehende Figur lebendig werden lässt. Annette Dasch gibt ein adäquat mädchenhaftes Gretchen, mengt ihren Klängen aber
mehr als nur eine Spur ahnender Verzweiflung bei. Profund geraten die Bass-Soli durch Georg Zeppenfeld. Mojca Erdmann, Elisabeth von Magnus, Birgit Remmert und Bernard Richter komplettieren das stimmstarke Ensemble. Der Arnold Schoenberg Chor singt auf dem - fast gewohnten - Weltklasse-Niveau, die Grazer Keplerspatzen liefern aparte Töne.


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"Falter" Nr. 26/06 Steiermark vom 28.06.2006 Seite: 5 Ressort: Steiermark Kultur

Johannes Frankfurter


Ein edler Faust

MUSIK Bei der Eröffnung der styriarte konnte man Nikolaus
Harnoncourt mit dem Seziermesser erleben.

Wenn Nikolaus Harnoncourt und seine langjährigen musikalischen Weggefährten, das Chamber Orchestra of Europe und der Arnold
Schoenberg Chor, im Grazer Stefaniensaal zur Eröffnung der styriarte an-und auftreten, dann ist allemal Jubelstimmung angesagt. Es ist ein
Heimspiel, das immer auch als gesellschaftliches Ereignis abgefeiert wird. Der Maestro lässt hierorts - des 150. Todestages von Robert
Schumann eingedenk - dessen "Faust-Szenen" erklingen, die er 1999 in Wien ausgegraben hat. Er macht sozusagen mit Mikroskop und
Seziermesser, aber zugleich mit einem Höchstmaß an Leidenschaftlichkeit die Schrunden und Brüche dieses Werkes hörbar.

Dadurch entlarvt er auch die klassizistischen Schönheitsphrasen nach der Art Mendelssohn-Bartholdy'scher Chorsätze und damit auch manche
Längen des mystischen Jubels im dritten Teil, das biedere deutsche Singspiel der ersten Szene und das klischeehafte Dies-Irae-Pathos der
Szene im Dom. Dem folgen in der "Zweiten Abteilung" wohl die neben der Ouvertüre interessantesten, weil impressionistisch flirrenden,
eigenständigsten Schumann-Töne. Diesem Mittelteil würde man gerne öfters lauschen können, zumal hier Christian Gerhaher als
baritonal-edler Faust und Alastar Miles als bass-böser Mephisto glänzten.

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