Kapaunenstopfen in Neuwahnstein

Hans Neuenfels' Fantasie "Schumann, Schubert und der Schnee"

Berliner Zeitung, Ausgabe 254 vom 31.10.2006, S. 24
Feuilleton

Jan Brachmann

Hans Neuenfels' Theater kommt aus der heroischen Zeit der Ideologiekritik und der Psychoanalyse, also aus den Siebziger- und Achtzigerjahren, als die Bühne entlarven, decouvrieren, outen wollte, was die Kunst verbarg. Aber nicht aus dem Ressentiment gegen die Werke der Tradition speist sich dieser Entlarvungsfuror, sondern aus intimster Kenntnis der Stücke, aus der Liebe, dem erotischen Selbst-Erfasstsein von all jenen Antriebskräften der Kunst, deren öffentliche Seit vielen Jahren hegt Neuenfels eine tiefe Zuneigung zur am wenigsten opernhaften Gattung des Gesangs, zum deutschen Lied, besonders zu Robert Schumann. Schumann selbst war ein schamhafter Verberger. In seiner Rezension von Berlioz' "Symphonie fantastique" schrieb er 1835: "Es besitzt der Mensch eine eigene Scheu vor der Arbeitsstätte des Genius: er will gar nichts von den Ursachen, Werkzeugen und Geheimnissen des Schaffens wissen . Verschließe sich also der Künstler mit seinen Wehen; wir würden schreckliche Dinge erfahren, wenn wir bei allen Werken bis auf den Grund ihrer Entstehung sehen könnten".

Die schwarze Witwe

Um diese schrecklichen Dinge doch zu zeigen, hat Neuenfels eine Oper für Klavier und Gesang nach Liedern von Franz Schubert und Robert Schumann arrangiert. Das Stück "Schumann, Schubert und der Schnee" erlebte seine zu recht gefeierte Premiere bereits 2005 bei der Ruhr-Triennale; am vergangenen Wochenende war die Koproduktion mit der Komischen Oper Berlin endlich in der Arena Treptow zu sehen. Eine mit schneeweißem Laub bedeckte Bühne (Daniel Eberle) ist der Raum, in dem ein Traum sich erfüllt. Clara Schumann (Elisabeth Trissenaar mit allem Schmelz und Gift einer schwarzen Witwe) fragt ihren Mann Robert (Olaf Bär): "Wenn wir nicht leben müssten, sondern mit unserem Leben spielen könnten, was würdest du tun?" Die Antwort: "Mit dir zusammensein und mit Franz Schubert um die Wette singen".

Schubert und Schumann sind sich nie begegnet, aber Schumanns Kommilitone Emil Flechsig berichtet, das Schumann die ganze Nacht geweint habe, als er im November 1828 von Schuberts Tod erfuhr. Flechsig musste den Freund trösten. Schumanns Verehrung für Schubert blieb lebenslang groß. Neuenfels bringt die beiden Liedlyriker, die als Opernkomponisten stets erfolglos blieben, zusammen. Schubert erscheint dabei gedoppelt als Sänger (Xavier Moreno) und als Sprecher (Ludwig Blochberger). Der Grund dieser Dopplung wird von den Figuren selbst mitgeteilt: Der Künstler Schubert habe sich vom Menschen getrennt, um in einer idealisierten Kunst auszublenden, was der Mensch an Schmutzigem getrieben habe. Und da weiß Neuenfels vieles ganz genau: "Ich habe mich nie für Frauen interessiert", lässt er den triebhaft aggressiven Knusperknaben Blochberger als Schubert sagen, "und für Männer nur, um meinen eigenen Körper zu spüren, um mich zu spüren und den

Keine Biedermänner

Eine investigative Musikwissenschaft hat Indizien gesammelt, das Franz Schubert schwul gewesen sein könnte. In den Briefen seines Freundeskreises (der männliche Teil daraus erscheint bei Neuenfels auch auf der Bühne) ist öfter vom "Kapaunenstopfen" die Rede, einer im Wien um 1820 gebräuchlichen Wendung für Analverkehr. Bei Neuenfels werden aus Indizien Gewissheiten. "Wir sind alle keine Biedermänner in dieser Biedermeierzeit" skandiert der Schubert'sche Männerbund. Und an dieser Stelle merkt man dann doch, wie wohlfeil das Decouvrieren inzwischen zu haben ist im schwulen Gesinnungsbiedermeier der Eliten unserer eigenen Epoche.

Aber Neuenfels ist ja ein gerissener Hund. Er nimmt alle Einwände vorweg. Als Bauernfeld seinen Freund Schubert mit Jim Morrison vergleicht, wehrt sich der andere Freund Mayrhofer gegen die "Vermischung der Zeiten" und die "Verniedlichung des Zwangs". Und lustig wird es immer wieder. Die Textzeile "so zuckte seine Rute" aus Schuberts "Forelle" wird man nie mehr mit unschuldiger Freude hören können. Allerdings werden auch die blödesten Klischees noch für einen Witz gebraucht, etwa wenn Clara erzählt: "Mir sind heute Nacht im Traum unsere vier Söhne erschienen, sie sahen alle aus wie Johannes Brahms". Die Legende, Brahms sei der Vater von Felix Schumann, ist längst aus der Welt geräumt, weil Robert seinen Beischlaf zum Zeugungstermin klar im Haushaltsbuch vermerkt hat.

Dieses Faktum nun ist wiederum ein Indiz, mit welcher Obsession Schumann - der an die Einheit von Kunst und Leben glaubte und die Ehe mit der Pianistin Clara Wieck als künstlerische Arbeitsgemeinschaft begriff - als Künstler eine bürgerliche Existenz Neuenfels' These lautet, dass diese obsessive Bürgerlichkeit Schumann in den Wahnsinn und in den Tod getrieben habe. Schubert ist es, der Schumann auffordert, sein "Neuwahnstein", das er sich da mit Ehe, Familie und Kunst gemauert habe, zu verlassen. Aber den Kuss, den Schubert ihm - während er "Gretchen am Spinnrade" singt - geben will, weist Schumann entschieden zurück. Und Olaf Bär spielt diese Szene auch so, als sei die Zurückweisung mit keinerlei Selbstverleugnung verbunden. Ja, Bärs Gesang und sein Spiel geben der Figur Schumanns eine andere Komplexität, als die zuweilen groben und billigen Thesen Neuenfels', der die Akteure unterm Schnee (als dem Symbol reiner Kunst) pornografische Zeichnungen von Genitalien freilegen Die religiösen Triebkräfte bei Schubert ("hast mich in eine beß're Welt entrückt, du holde Kunst") oder bei Schumann (er hörte vor seinem Selbstmordversuch tagelang die Engel singen) werden bezeichnenderweise gar nicht aufgegriffen. Dabei ließe sich Schumanns Biografie sehr schlüssig erzählen als die eines Geistersehers, eines Schamanen, der an der repressiven Säkularität der modernen Welt irre wird.

Dennoch besticht dieser Abend immer wieder durch seine enorme Detailkenntnis. Wenn im "Wanderlied" aus Schumanns Zyklus nach Gedichten von Justinus Kerner der Mittelteil anhebt, hört bei Neuenfels Schumann auf zu singen und Schubert singt weiter. Die Terzrückung und der Daktylus im Versmaß (lang-kurz-kurz) sind wirklich so typisch für Schubert, dass man sagen kann: Hier singt Schubert in einem Lied von Schumann.

Der Flügel spielt Theater

Marcelo Amaral am Flügel arbeitet mit an der Herstellung szenischer Spannung und gewinnt nicht nur durch genaues Timing, sondern vor allem durch Klangfarben dem Instrument theatralische Kraft ab. Man muss Xavier Moreno und besonders Olaf Bär zu ihrem Mut gratulieren, sich als Liedsänger solch einem Experiment ausgesetzt zu haben. Es wäre schön, wenn es mehr Sänger mit dieser Bereitschaft gäbe, und es fände sicher auch Zuspruch beim Publikum, wenn die Komische Oper diese Produktion öfter zeigte. Die zwei Vorstellungen am Wochenende waren leider die einzigen.

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