Von der hohen Kunst des Umgarnens

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. November 2009

Martha Argerich und Charles Dutoit begeistern mit Robert Schumanns Klavierkonzert

Martha Argerich ist, musikalisch gesehen, oft die Frau, die davonläuft. Wenn man sich die Mitschnitte vom jährlichen Kammermusikfestival der Pianistin in Lugano anhört, erlebt man bei ihr eine Unruhe, die sich positiv als Risikofreude, negativ als Hetze beschreiben ließe: In der Jagd nach dem nächsten Höhepunkt ist Argerich dem logischen Fluss der Musik meist voraus, als habe sie ständig Angst, die Initiative zu verlieren.

Doch nun hat sie in Berlin mit dem Deutschen Symphonie-Orchester unter der Leitung ihres einstigen Ehemanns Charles Dutoit das Klavierkonzert von Robert Schumann gespielt und gleich bei der Übernahme des Hauptthemas von den Holzbläsern gebremst. Sie wollte den Charaktergegensatz zwischen der zackigen Eröffnungskaskade und diesem sinnenden Lied ohne Worte auch als Tempogegensatz zeigen. Denn es sind ja zwei Seiten von Schumanns Ich, Florestan und Eusebius, der Stürmer und der Träumer, die sich hier umeinander drehen und miteinander reden. Eine behutsame, sich selbst belauschende Aufführung nahm ihren Lauf: das Klavier fast durchweg abgedämpft durch das linke Pedal und zugleich sensibel belebt durch vibrierendes rechts Pedal.

Clara Schumann, die Uraufführungssolistin, schrieb über das Stück: „Das Klavier ist auf das feinste mit dem Orchester verwebt.“ Und Martha Argerich wollte dieses Gewebe so dicht wie möglich haben, schaute meistens am Dirigenten vorbei direkt auf die Soloklarinette oder die Solooboe und ließ sich ein auf das leise Wechselspiel von Umgarnen und Umgarnt-Werden. Die maßvollen Tempi und die Fülle an inneren Stimmen wirkten sich so glücklich auf das Stück aus, dass auch der zweite Satz alles Täppische verlor und das Finale alle Etüdenhaftigkeit, die Wladimir Horowitz stets daran abstieß. Mit Chopins Mazurka C-Dur op. 24 Nr. 2 bedankte sich die Pianistin bei dem vor Begeisterung schier entgrenzten Berliner Publikum und stellte durch die Zugabe wieder den Bezug zum Thema des Abends her: dem Tanz.

Carl Maria von Webers „Aufforderung zum Tanz“ in der Orchesterfassung von Berlioz hatte den Anfang gemacht, wobei der fabelhafte Solocellist des DSO, Mischa Meyer, gleich zu Beginn ein hohes Niveau vorgab: Seine empfindliche Balance von sprechender Artikulation und gesanglichem Ton stimmte ein auf eine Orchesterleistung, die Diskretion und Deutlichkeit auf wirklich delikate Weise zueinander ins Verhältnis setzte. Auch bei Tänzen schlug die rhythmische Strenge nirgends in forcierte Härte um. Dennoch blieb der Kontrast der Klangsphären – hier das Kantige mit Röhrenglocken und Xylophon, dort das Nostalgische mit horngefüllten Streicherkantilenen – erhalten und offenbarte die Partitur als Historiographie von Orchestrationsidealen.

Das Jahrhundert des Walzers durchschritt dieses intelligent programmierte Konzert: von Webers 1819 komponierter „Aufforderung“ bis zu Ravels 1919 vollendetem Abgesang „La Valse“. Und auch, wenn Dutoit, dieser Virtuose der Eleganz, auf die allerletzte katastrophische Zuspitzung bei Ravel verzichtete, so war der beschriebene geschichtliche Bogen doch ungeheuer eindrucksvoll: von einer still-epilogischen Form bei Weber zum verhängnisvollen Finalismus bei Ravel, von einer Kultur des Maßes zum Ausdruck einer selbstzerstörerischen Gier.

Jan Brachmann

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