Haushaltsbuch voller Symphonieglück

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.02.2007, Nr. 41, S. 41
Schallplatten und Phono


Riccardo Chailly erinnert an Mahlers Retuschen in den Symphonien Robert Schumanns

Das Ziel, das Robert Schumann in seiner dreizehnten "Musikalischen Haus- und Lebensregel" für sich und seine Kinder aufstellte, lag selbstverständlich in Utopia: "Du musst es so weit bringen, dass du eine Musik auf dem Papier verstehst!" Jede Partitur, selbst die historisch-kritisch revidierte, hält aber immer nur ein Durchgangsstadium fest - auf dem Wege zum klingenden Ereignis, das wiederum seinerseits zurückwirkt auf den Text.

Alles fließt. Ein Notentext dokumentiert nicht die ganze Musik, sie braucht auch einen Interpreten. Schumann selbst hatte seine d-moll-Symphonie gleich nach der glücklosen ersten Aufführung wieder zurückgezogen und revidierte sie gründlich. Auch an der C-Dur-Symphonie, die vom Publikum besser aufgenommen wurde, begann er gleich nach der Uraufführung weiter zu instrumentieren, fügte beispielsweise Alt- und Tenorposaunen hinzu im ersten Satz. Das vollkommene "Symphonieglück", wie es deshalb am 12. November 1846 im Schumannschen Haushaltsbuch vermerkt wird, hält, so ist zu lernen, nie für alle Ewigkeit.

Dies ist keine Spitzfindigkeit der Musikphilosophie, sondern eine Grunderfahrung, die jeder Konzertbesucher in der Praxis macht, jeden Abend neu. Auch die Erfindung der Schallplatte hat daran nichts ändern können. Ja, sogar Aufführungen, die als "vollendet stilgerecht" daherkommen - wie John Eliot Gardiner vor zehn Jahren seine vorbildlich entrümpelte Archiv-Gesamtaufnahme der vier schumannschen Symphonien genannt hat - bieten letzten Endes doch nur wieder eine mögliche Fassung an, unter vielen. Sechs Jahre später wurde Gardiner widerlegt, von der Neuaufnahme aller Schumann-Symphonien mit Daniel Barenboim und der Berliner Staatskapelle, die zu einem "furtwänglerisch" blühenden, üppig-romantisch gerundeten Klangbild zurückführte. Jetzt hat sich auch Riccardo Chailly eingemischt in die Debatte um das authentische Schumann-Orchester, er legt den Finger gezielt auf eine alte Wunde: Schumanns Vierte in d-moll und die Zweite in C-Dur werden in der Orchestrierung Gustav Mahlers präsentiert, in einem Live-Mitschnitt aus dem Leipziger Gewandhaus.

Mahlers Orchestersprache ist von der Schumanns grundverschieden. Entsprechend extrovertierter, verschärfend fallen seine "Verbesserungsvorschläge" aus. Er war freilich nicht der Einzige, der meinte, Schumanns Orchestrierung nacharbeiten zu müssen. Auch von Felix Weingartner und anderen sind Retuschen überliefert. Die mahlerschen wurden erstmals 1927 von der Universal Edition veröffentlicht. Es war Aldo Ceccato, der dann, deklariert als "Weltersteinspielung", 1987 mit dem Bergen Philharmonic Orchestra zunächst die Mahler-Fassung der ersten und der zweiten Symphonie aufgenommen hat (BIS 61, im Vertrieb von Klassik Center).

Insgesamt änderte Mahler 355 Stellen allein in der C-Dur-Symphonie, 466 Retuschen fielen bei der Revision der vierten an, die er selbst mit den Wiener Philharmonikern erstmals 1900 im Abonnementskonzert gespielt hat. Für David Matthews, der verantwortlich ist für den Text im Beiheft der Neuaufnahme, ist das nicht einmal viel. Er rühmt sogar die "Zurückhaltung" der mahlerschen Schumann-Orchestrierungen, die er legitim findet, weil sie "ganz einfach helfen dabei, diese Werke besser klingen zu lassen". Sollte hinter diesem saloppen Satz etwa das alte, offenbar unausrottbare Vorurteil durchblitzen, Schumann sei ein schlechter Anwalt seiner selbst gewesen, er habe - als geborener Klavierkomponist - leider miserabel orchestriert?

Tatsächlich gilt im Falle Schumann, egal für welche "Fassung" oder "Interpretation" der Symphonien, nach wie vor jenes Machtwort, das Reinhard Kapp in seiner Studie in den Musik-Konzepten über "Das Orchester Schumanns" sprach: "Was in dieser Instrumentation (mit einem billigerweise zu fordernden gewissen Aufwand an Zuneigung, Kompetenz, Energie und Zeit) nicht herauszubringen ist, wurde nicht komponiert." Viele Retuschen Mahlers sind in diesem Sinne "kompetent" - sie dienen der Verdeutlichung thematischer Prozesse: ein zusätzliches Crescendo hier, eine weggestrichene Stimmenverdopplung dort. Akzentvarianten, Veränderungen in der Dynamik oder in der Spielweise fallen eher in den Bereich des Interpretatorischen. Insofern scheint es nicht verwunderlich, dass die Darbietung Chaillys auf Anhieb nur wenig fremdelt: Viele Veränderungen sind Nuancen, die man nur wirklich "hören" kann, wenn man zugleich auch die Noten mitliest. Doch es gibt Varianten, ja, Brüche, die in den Bereich des Hörbaren fallen: Bläsergruppen treten effektvoller an die Rampe, Phrasen werden plastischer. Beim Beginn der Zweiten vermisst man beispielsweise den warm unterfütternden Choraltonfall.

Mahler hat das Eröffnungsthema allein der Trompete zugestanden, möglicherweise, um es zu schärfen und aufzuhellen: Horn und Posaunen fallen weg. Auch in anderen Fällen hat Mahler entschieden neu instrumentiert und, etwa in der paukendurchwirbelten Schlussgruppe des Finales der C-Dur-Symphonie sogar für zwei Takte die Harmonie geändert. Chailly nimmt dieses Allegro molto vivave, wie es der Titel fordert "sehr lebhaft". In beschwingter Frische rast er dem Ende zu, als gelte es, ein donnerndes Theaterfinale zu absolvieren, ja, er vollendet sogar noch eine halbe Minute vor dem "historisch-authentischen" Timing, das der schnelle Gardiner vorgelegt hat. Es lohnt sich aber nicht nur studien- und vergleichshalber, diese Aufnahme zur Kenntnis zu nehmen. Sie ist ein interessantes Dokument - und ernstzunehmende Interpretation zugleich.

Als Zugabe bietet das Album die eher selten gespielte Genoveva-Ouvertüre. Auch in diesem Fall lässt sich vom strahlend-vollen Klangbild des rundum verjüngten Gewandhausorchesters und der fein differenzierten Arbeit unter seinem neuen Chef im Großen und Ganzen nur Gutes sagen.

ELEONORE BÜNING

Robert Schumann, Symphonien Nr. 2 C-Dur op.61 und Nr.4 d-moll op.120 in der Orchestrierung Gustav Mahlers, Genoveva-Ouvertüre op.81, Gewandhausorchester Leipzig, Riccardo Chailly. Decca 475 8352 (Universal)

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