DIE TONKUNST zur Veröffentlichung der Krankenakten

DIE TONKUNST, Januar 2007, Jg. 1, Nr. 1
Seite 78-80

Appel (Hg.): Robert Schumann in Endenich (1854-1856)

Krankenakten, Briefzeugnisse und zeitgenössische Berichte, Mainz (Schott) 2006

Robert Schumanns Zeit in der Endenicher Heilanstalt vom 4. März 1854 ist bis zu seinem Tod am 29. Juli 1856 und sein einhergehender Verwall waren lange Zeit Gegenstand von Spekulationen. Dies umso mehr, als man von Krankenberichten der behandelnden Ärzte wusste, der Inhalt aber verborgen blieb. Bernhard R. Appel konnte die erhaltenen Teile dieses Dossiers nun erstmals vollständig veröffentlichen und in chronologischer Anordnung mit anderen Textsorten (Briefe, Tagebuchnotizen, Presseberichte u. ä.) als ein beredtes Zeugnis der letzten zwei siechen Jahren des Komponisten präsentieren. Als unwiederbringlich verloren gelten allerdings Schumanns eigene Aufzeichnung der Zeit.

Dem mittelbaren verwandtschaftlichen Verhältnis des Komponisten Aribert Reimann mit dem Leiter der Endenicher Heilanstalt, Dr. Franz Richarz, ist es zu verdanken, dass die Krankenchronik, die Richarz gemeinsam mit seinem Assistenten Dr. Eberhard Peters über ihren Patienten Schumann führte, 1988 in den Privatbesitz Reimanns überging, Gebeten zu schweigen, zögerte er bis 1991, bevor er die Dokumente der Akademie der Künste, Berlin, als Dauerleihgabe überantwortete. Seitdem waren sie selektiv zugänglich.

In seiner gewissenhaften Einleitung zeichnet Appel zunächst die Gründe für eine ›Spekulationsdynamik‹ hinsichtlich der Erkrankung Schumanns nach. Der auf geistigen und psychischen Erkrankungen lastende Schuldverdacht mit der Folge wohlmeinender Beschönigung der Krankheit durch Familie und Kollegen, die ängstliche Frage nach der Qualität oder Reputation der Kompositionen der letzten Jahre, Mutmaßungen über Motive von Schumanns Frau Clara, schließlich das Wissen um die Existenz zurückgehaltener Dokumente verbunden mit der Vermutung einer regelrechten ärztlichen Folterbehandlung – all dies ließ die Fantasie über die Erkrankung Schumanns und deren Therapie blühen. So mag eine Qualität der Veröffentlichung darin liegen, die Notwendigkeit von Spekulationen über vormals Unbekanntes durch die nunmehr leichte Zugänglichkeit der Quelle zu beenden (kapriziert man sich nicht auf sechs während der Zweiten Weltkriegs verloren gegangene Blätter des Berichts).

Appel Urteil, »für sich allein genommen sind erhebliche Teile des Krankenberichts von einer eigentümlichen Leere«, bestätigt sich auf den ersten Blick. Aphoristische Beschreibungen der Laune des Patienten, Pulsfrequenz, Konsistenz und Menge des Stuhls wirken unspektakulär. Bedrückend erscheint allerdings der lakonisch geschilderte mehr oder weniger offen gewalttätige Aspekt, der in dem fortgesetzten Verabreichen von Einkäufen liegt, gegen die sich Schumann zum Teil vehement zu wehren versuchte. Mildernd – wenigstens die Intention der Ärzte betreffend – wirkt allerdings das Zeitübliche der Behandlung, insofern sich offenbar »Damen von Stand von ihren Dienstmägden täglich ein Klistier verabreichen ließen«. Dies erfährt man in dem hier integrierten ersten Beitrag zum Krankenbericht durch Franz Hermann Franken von 1994. Richarz war offenbar glaubwürdig und auf der Höhe der Zeit um das Wohl seines Patienten besorgt und beachtete die Grundregeln des ›no restraint‹ der gewaltfreien Psychiatrie. Schumann, der selbst darauf gedrungen hatte, in eine Anstalt eingeliefert zu werden, litt jedoch, worauf einleitend Appel verweist, unter der mangelnden Privatsphäre, dem Verweigern von Wünschen und dem pausenlosen Bewachtsein. Selbst nachts schlief ein Wärter bei ihm. Resümierend lautet Frankens Urteil positiv: »Auch nach heutigen Gesichtspunkten war Schumann in der Endenicher Anstalt optimal untergebracht […]«.

Weder eine aussagekräftige Anamnese noch eine entsprechende Diagnose sind Bestandteil der überlieferten Berichte. Der bereits bekannte und ergänzend ebenfalls in den Band aufgenommene Obduktionsbefund Richarz’ wird in der nachgedruckten kritischen Würdigung durch Werner Jänisch und Gerd Nauhaus von 1986 hinsichtlich einer diagnostischen Aussage differenziert diskutiert. Ergänzend wurde ein quasi resümierender Bericht Richarz’ von 1873 eingefügt. Neben dem Beitrag Frankens widmet sich Uwe Henrik Peters in einem ausführlichen medizinhistorischen Originalbeitrag dem Verständnis der ärztlichen Handlungsweise aus der Zeit heraus und diskutiert unterschiedliche Diagnoseansätze, ohne sich jedoch festzulegen. Indes widerspricht er entschieden der geäußerten Sicherheit Frankens: »Klärt nun Richarz’ Verlaufsbericht die Diagnose von Schumanns Krankheit? Die Frage ist zu bejahen. Was Richarz schildert, ist der charakteristische Verlauf eines hirnorganischen Abbauprozesses, wobei die Indizien dafür, dass es sich um eine – syphilitisch bedingte – progressive Paralyse handelte, überzeugend sind.« Die verdächtigen Symptome Schumanns deutet Peters ebenso wie eine markante Tagebucheintragung zum vermuteten Infektionsanlass als nicht stichhaltig im Sinne einer syphilitischen Infektion. Auch Jänisch und Nauhaus melden differenzierte Zweifel an, tendieren aber ebenso wenig zu einer denkbaren Folgeerkrankung durch hohen Blutdruck. Die bekannte dritte Vermutung des Leidens an einer endogenen Psychose ließe sich auf dem Obduktionswege ohnehin nicht klären. Die Frage einer geistigen oder psychischen Erkrankung subsumiert Peters in Ermangelung plausibler Alternativen unter dem sehr allgemeinen (Not-)Begriff ›Einheitspsychose‹ unter Berücksichtigung zeittypischer Auffassungen vom ›Irresein‹. Das hiermit verbundene – bekanntermaßen auch Schumann zugeschriebene – Halluzinieren stellt Peters für das geschilderte Verhalten Schumanns allerdings in Abrede.

Die Rolle Clara Schumanns, der mitunter vorgeworfen wurde, Vorteile für Karriere und vermutetes Liebesleben mit Johannes Brahms aus der krankheitsbedingten Abwesenheit ihres Mannes gezogen zu haben, bestätigt sich im Zusammenhang der Dokumente einmal mehr im Sinne einer nach Kräften sorgenden und mit-leidenden Gattin. Die Umstände der Therapie und die Antwortunwilligkeit Roberts, nicht Claras mangelnde Motivation, ließen den Kontakt bekannt spärlich werden.

Dem letzten Eintrag vor dem Todesvermerk des Folgetages haftet noch in der Trockenheit des sprachlichen Duktus von Eberhard Peters etwas Tröstliches an:


9. Juli 1856 War von gestern Mittag an ruhig. auch während der Nacht, nahm von seiner Frau ein paar /Thee/Löffel Fruchtgelée und etwas Wein. heute Morgen freiwillig einige Löffelchen Gelée. Urinirte ins Bett. Abends starkes Schleimrasseln. Der Puls 120. Athmungen 44. /fast/ Kein Zähneknirschen […] Beim heutigen Besuch seiner Frau freundlich, dieselbe anlächelnd, auch nach derselben den Arzt anlächelnd. – bleiches Aussehen. Bei der visite starkes Schleimrasseln.


Ausführlich erläuterte Quellen um das Ereignis des Todes und zahlreiche Abbildungen runden eine Veröffentlichung ab, der auf 600 Seiten eine ebenso sekundär informative wie vor allem durch gewissenhaft annotierte Primärquellen sinnliche Annäherung an Robert Schumanns letzte zwei Lebensjahre gelingt. Christoph Kammertöns

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