Manuel Gervink zu Schumanns Krankenakten
Die Musikforschung, 61. Jahrgang 2008, Heft 1, Januar – März, Seite 95-96
Robert Schumann in Endenich (1854-1856): Krankenakten, Briefzeugnisse und zeitgenössische Berichte. Hrsg. von der Akademie der Künste, Berlin, und der Robert-Schumann-Forschungsstelle, Düsseldorf, durch Bernhard R. APPEL. Mit einem Vorwort von Aribert REIMANN. Mainz u. a.: Schott Music 2006. 607 S., Abb. (Schumann Forschungen. Band 11.)
Die letzten Lebensjahre Robert Schumanns in der privaten „Irrenanstalt“ in Endenich bei Bonn haben in mehrfacher Hinsicht Diskussionen ausgelöst, die teilweise noch immer geführt werden und die vielfach im Boulevardhaften angesiedelt sind. Neben der menschlichen Tragödie, die Schumann und seine Familie durchlebten, sind es wild wuchernde Spekulationen über eine Liebesverbindung zwischen Clara Schumann und Johannes Brahms, denen die Einweisung Schumanns in die Anstalt gerade recht gekommen sei, und gar die abenteuerliche These, Brahms sei der Vater des jüngsten Schumann-Kinds gewesen. Beinahe nahtlos passt in eine solche Verschwörungstheorie, dass die Berichte, die Clara aus der Anstalt empfing und in denen sie über den psychischen und physischen Zustand ihres Mannes regelmäßig informiert wurde, sämtlich verloren sind, ebenso wie große Teile der Korrespondenz zwischen ihr und Johannes Brahms von beiden vorsätzlich vernichtet wurden. Schließlich wusste man, dass der behandelnde Arzt, Leiter und Besitzer der Anstalt, Dr. Richarz, den Bericht, den er gemeinsam mit seinem Assistenten Dr. Peters beinahe täglich über den Verlauf der Krankheit Schumanns angefertigt hatte, nicht bei den Akten der Klinik gelassen, sondern nach seinem Abschied mitgenommen hatte.
Dass die von Bernhard R. Appel im Schumann-Jahr 2006 vorgelegte Dokumentation der Endenicher Jahre eine lebhafte Reaktion hat, legt schon heute Zeugnis von dem erheblichen Aufruhr ab, den die Publikation auslöste. Dies ist erfreulich und umso mehr, als es sich hier um eine Arbeit handelt, die über jeglichen Verdacht einer chronique scandaleuse oder dergleichen erhaben ist. Kernstück ist die Wiedergabe der wieder aufgefundenen, beinahe vollständig erhaltenen Arztberichte Richarz’. Besitzer des Dokuments ist der Komponist Aribert Reimann, der es von seinem Onkel, einem entfernten Nachfahren Richarz’, geerbt und im Archiv der Berliner Akademie der Künste deponiert hatte. Appel hat den Text um Briefe, Tagebuchnotizen und biographische Informationen ergänzt, kommentiert und in eine strenge Chronologie gebracht, die erstmals den Endenicher Aufenthalt Schumanns um eine quasi objektive, medizinische Ebene erweitert. Zwar wirkt dieser Bericht inmitten der die Eintragungen ergänzenden persönlichen Dokumente seltsam isoliert, manchmal gar wie ein Fremdkörper, doch mag dies daran liegen, dass die Reaktionen vor allem Clara Schumanns sich fast stets auf einen der erwähnten Arztbriefe beziehen, die als verloren gelten müssen.
In seiner ausführlichen Einleitung verdeutlicht Appel die Genese der endgültigen Textgestalt, wobei er mit wenigen Ausnahmen die Rolle des neutralen Editors wahrnimmt. Zu diesen gehört die Richtigstellung der hartnäckigsten Gerüchte, wenn sie denn durch das neu gefundene Material ermöglicht wird: Dass Clara Schumann ihren Mann erst wenige Tage vor seinem Tod besuchen durfte, hat seinen Grund in der hartnäckigen Weigerung der Ärzte, die – aus der Perspektive des damaligen medizinischen Wissenstands durchaus verständlich – um die Genesung ihres Patienten fürchteten. Dokumentiert sind das Leid und die Qualen, die Clara erlitt. Nötig wäre es nicht gewesen, doch Appel errechnet anhand des Datums der ersten Begegnung von Clara und Brahms einerseits sowie des Geburtsdatums des jüngsten Schumann-Sohnes Felix andererseits die nahezu vollständige Unmöglichkeit einer Vaterschaft Brahms’.
Bei einer vollständigen Lektüre aller Dokumente (gut 400 Druckseiten inkl. Kommentaren) ergibt sich das Nebeneinander der disparaten Texte eine geradezu dokumentarisch-realistische Wirkung. Neben vielem Anderen erschließen sich Bereiche und Details, die man bislang nicht wahrgenommen hat, beispielsweise die qualvoll lange Zeitspanne, bis Clara zumindest ein Lebenszeichen Schumanns erhielt, die permanente Zukunftsangst, die sie in ihrer verzweifelten Lage unausweichlich erleiden musste, schließlich die Beruhigung, nach einem guten halben Jahr endlich Briefe von Schumann zu erhalten, in denen ihr ihr Mann als vollständig geheilt vorkommen musste (was auch die Freunde bestätigten, die ihn besuchen durften), und zuletzt das plötzliche Verstummen Schumanns. All dies wird durch die nüchternen Berichte der beiden Ärzte Richard und Peters flankiert, in denen wir über Schumanns Stuhlgang umfassender informiert werden, als uns dies mitunter lieb ist; wir erfahren aber auch von seinen pathologischen Sinnestäuschungen, nächtelangen Schreianfällen und den entwürdigenden Vorfällen der letzten Tage.
Es ist nicht leicht, zu diesem Buch eine Position zu finden. Es ist fesselnd, anrühren und abstoßend zugleich, es macht den Leser zum Voyeur und verschafft ihm Einblick in einen Bereich, der mit Recht eigentlich tabu ist und den er in aller Regel auch tabu wissen möchte. Und man wird Zeuge eines umfassenden Verfalls. Steht in diesem wesentlichen Teil des Buchs der Zweck einer kommentierten Dokumentation einer Textquelle von erheblicher Bedeutung im Vordergrund (was auch Fragen nach dem Sinn solcher Arbeit mit Hinblick auf die künstlerische Persönlichkeit obsolet erscheinen lässt), so wird diese vordringliche Dokumentationsaufgabe in den Texten der beiden medizinhistorischen Stellungnahmen mitunter verlassen. Sie befassen sich nämlich größtenteils mit der Frage, auf welche Krankheitsursachen die Pathographie schließen lässt, mithin der gleichfalls nicht neuen These einer progressiven Infektion im Jahr 1831, auf deren Primäreffekte Schumanns Tagebücher Hinweise liefern („das Frenulum gebissen“), verlassen somit den medizinhistorischen Kontext. Nicht nur der „Plastizität“ der Schilderung zuträglich sind die 77 teilweise ausführlich kommentierten Abbildungen und Faksimiles; Bibliographie, Personen- und Werkregister sind vorbildlich. An dieser Publikation scheiden sich die Geister – vermutlich war das nicht vermeidbar. Die Alternative, den Arztbericht nicht zu veröffentlichen, erscheint jedoch schon jetzt undenkbar.
(September 2007) Manuel Gervink
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