Sozialgeschichte der klassischen Musik.

Irmgard Jungmann.

Bildungsbürgerliche Musikanschauung im 19. und 20. Jahrhundert.
VI, 261 S., Abb., gebunden
Suttgart · Weimar: Verlag J.B. Metzler; Kassel: Bärenreiter, 2008
ISBN: 978-3-476-02297-4 (Metzler)


Einem interessanten Phänomen geht die Musiksoziologin Irmgard Jungmann in vorliegendem Buch nach. Von jeher wird der Umgang mit der so genannten „klassischen Musik” in engem Zusammenhang mit der Geschichte des Bildungsbürgertums gesehen. Anschauungen, Wertungen und die Entwicklung jeglicher Rezeption werden vorrangig durch die Entstehung dieser Bevölkerungsschicht gegen Ende des 18. Jahrhunderts geprägt. Die teilweise romantisch überhöhten Ideale der Musikästhetik jener Epoche sorgten für eine neuartige musikalische Öffentlichkeit bzw. die Ausbildung eines regelrechten Musikmarktes. Die Verbreitung und dafür erforderliche Herstellung von Pianos, eine Massenproduktion von Klavierschulen, die Vergrößerung bzw. Neugründung von Musikverlagen und ein gesteigertes Konzertwesen beeinflussten ihrerseits wiederum die Kompositionen, deren Art und Darbietung. Hauptbestreben war die klare Abgrenzung gegen alles, was als „Trivialmusik”, und mithin des gehobenen Bürgertums nicht angemessen, empfunden wurde. Private Salons, öffentliche Konzerte, auch das Chorsingen in der Öffentlichkeit bis hin zur nationalen Feier bildeten das Zentrum des gesellschaftlichen Musizierens, das in jedem Fall ohne die Teilnahme der unteren Schichten stattfand.

Als zunehmend mehr Menschen am Ende des 19. Jahrhunderts die Möglichkeit einer guten Ausbildung wahrnehmen konnten, vergrößerten sich naturgemäß auch die bisher doch eher elitär gehaltenen Zirkel, die den Bereich der klassischen Musik für sich beanspruchten. Zur Zeit der Weimarer Republik, des nationalsozialistischen Regimes und der jungen Bundesrepublik bis weit ins 20. Jahrhunhert hinein entwickelten sich vielfältige Stränge des Musiklebens und der Kulturpolitik, deren Basis aber der ursprüngliche Gedanke des Zugangs zur klassischen Musik als Ausdruck gesellschaftlicher Teilhabe an der Kunst blieb. Was die gebildeten Schichten zum Kulturgut erklärt hatten und als wichtiges Medium zur persönlichen und gesellschaftlichen Vervollkommnung verstanden, blieb weiten Teilen der Bevölkerung immer noch verschlossen. Gerade diese Diskrepanz führte zu lebhaften Diskussionen, was einerseits die allgemeine Musikanschauung veränderte und andererseits zur Einrichtung von Volkskonzerten, zur musikalischen Erziehung der unteren Gesellschaftsschichten und zu Reformen des Schulunterrichts führte.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts galt Leipzig als einer der bedeutendsten kulturellen Brennpunkte. Exemplarisch verwendet die Autorin daher gerade diese Stadt, um Entwicklung und Aufblühen des städtischen Musiklebens darzustellen. Robert Schumann, der zu jener Zeit dort lebte und Zugang zu den gebildeten Salons Leipzigs hatte, trug nicht zuletzt durch die Gründung seiner Neuen Zeitschrift für Musik 1834 wesentlich zu solchen Strömungen bei. Ausführlichh erläutert Irmgard Jungmann die Anfänge des sich formierenden Bildungsbürgertums, die daraus erwachsende Musikästhetik vom preußischen Absolutismus bis zur Reichsgründung. Die Forderung nach mehr Kunst für das Volk und aus dem Volk wird auf dem Weg zur Weimarer Republik immer stärker. Außerdem entwickelt sich eine musikwissenschaftliche Tätigkeit, die sich positionieren muss. Musikpflege und -publizistik passen sich den veränderten Bedingungen an und werden verstärkt durch die zunehmend propagierten nationalistischen, rassistischen und antisemitischen Tendenzen unterwandert.

Nachdem erst sehr spät, nämlich Ende der 1970er Jahre, und zunächst sehr zögerlich, überhaupt mit einer Aufarbeitung des Musiklebens dieser Zeit begonnen wurde, liegen inzwischen einige fundierte Dokumentationen und Darstellungen vor. Dennoch blieb die Frage offen, wie sich die NS-Führung gegenüber der Musik als Kunst der Bildungsschicht und gegenüber der so genannten „Unterhaltungsmusik” verhielt. So ist ein Verdienst der vorliegenden Studie die Untersuchung der Musikgeschichte des „Dritten Reiches” unter diesem Aspekt. Die musikalische Erziehung des Volkes auf der einen, und die vollkommene Ablehnung des „Jazz” als das „Problem Unterhaltungsmusik” auf der anderen Seite bilden die Pole, zwischen denen sich Musikideologie und Politik bewegten. Dass diese auch nach 1945 fortwirken und nicht unbedingt nur für positive Entwicklungen sorgen, legt Jungmann in ihrem letzten Kapitel überzeugend dar. So wirft sie unter anderem die berechtigte Frage auf, ob sich mit Beginn der Bundesrepublik das Bildungsbürgertum aufzulösen beginnt.

Während man die ersten Kapitel des Buches aus der Retrospektive des historischen Blickwinkels liest, interessiert, aber nicht wirklich betroffen, empfindet man gerade die letzten Seiten als ungeheuer spannend. Die meisten haben diese Zeit selbst erlebt, erfahren und entsprechend bewertet. Sie nun auf der Grundlage dessen, was die Autorin zuvor aufgearbeitet hat, vorgelegt zu bekommen, vermittelt neue, oft auch ungeahnte Erkenntnisse. Offen bleiben die Auswirkungen der momentanen Situation, die abschließend kurz angerissen wird. Ein Buch, das sich nicht mit der Musik direkt befasst, und doch soviel über sie und ihre Rezeption aussagt.


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