Schumann, der stille Prophet

Rheinische Post, 3. Juni 2010
VON WOLFRAM GOERTZ

Vor 200 Jahren wurde der große Komponist in Zwickau geboren. Wie kaum ein anderer verkörperte er die neuen visionären Ideen eines freien Künstlertums. Seine Introvertiertheit stand ihm im Wege, auch bei seiner Karriere. Krankheiten beschwerten sie zusätzlich.
Zwickau Wenn wir uns vorstellen, dass jeder große Tonsetzer einen neuen Tonfall, einen neuen Komponiergrundsatz in die Welt gebracht hat – was wäre das Neue bei Robert Schumann?

Bei Schumann gewinnt der Hörer rasch die Gewissheit, dass es nicht zuerst um Formen und Prozesse geht, sondern um das Subjektive. Da orientiert sich einer nicht nur an Rastern, die ihm überliefert sind – seine Musik scheint sich ihre eigene Matrix zu erfinden. Auch das Personal der Musik verwandelt sich. Jetzt flattern Schmetterlinge ("Papillons", op. 2), kämpfen Davidsbündler gegen Philister (Davidsbündlertänze); sogar Kollegen werden namentlich porträtiert (Paganini und Chopin in "Carnaval"), nebenan gibt es Maskenbälle, Arabesken, Blumenstücke, Grillen, Träumereien, Kamingedanken. So wagt sich einer vor ins unerhörte Neuland; dem romantischen Charakterstück am Klavier erschließt Schumann Parzelle um Parzelle. Natürlich sind diese Kleinodien an Strukturen ausgerichtet, die Schumann aus der Musikgeschichte erbte: Rondoform, dreiteilige Liedform, Sonatenhauptsatzform. Aber der Hörer nimmt ihre Einbettung ins Fangraster kaum wahr.

Der Titel des zweiten Stücks der Fantasiestücke op. 12 scheint als Leitmotiv der frühen Phase des Komponierens durch: Aufschwung. Schumann wagt sich hervor, er hat die Heimatstadt Zwickau verlassen und studiert jetzt in Leipzig; hochfliegende Gedanken beflügeln ihn – der Künstler als ritterlicher Held, unbezwungen, kühn. Aber früh ist da auch eine depressive Tendenz, die Schumann in klarer Somnambulie nicht unformuliert lässt: "Mir träumte, ich wäre im Rhein ertrunken" – das notiert er mit 19 Jahren im Tagebuch, nicht ahnend, dass er in seinen Düsseldorfer Jahren Selbstmord im Rhein begehen will.

Ringkämpfe mit dem Unbewussten, Selbstzweifel, Karrieresehnsucht, Konflikte mit der Realität – Schumanns Psychogramm ist früh sortiert und wird von ihm selbst durch sehr regelmäßige schriftliche Selbstauskünfte absichtsvoll verbürgt. Zuweilen grenzt das ans Exhibitionistische: Seht her – ich, Robert Schumann, der leidende große Genius! Pianist will er werden, hat auch das Zeug dazu, aber dann kommt eine neurologische Störung, die seine Spielfähigkeit lädiert. Als Jura-Student ist er früh unleidlich, desorientiert. Als Musikkritiker schwebt er wie ein einsamer Geist über den tiefen Dächern seiner Zeit, Geschäftstüchtigkeit ist nicht sein Ding. Er trinkt gern, trocken ist nur sein Portemonnaie. Später, in der Ehe mit Clara, achtet er auf Konsolidierung des Haushalts, doch mit den Finanzen wird es bei Schumann, sieht man von der Düsseldorfer Zeit ab, nie wirklich stimmen. Dass die eigene Gattin als Pianistin berühmter ist als er und hier helfend einspringen könnte, mag Schumann nicht hinnehmen. Er findet ein unverdächtiges Mittel, Clara von ihrer Konzerttätigkeit abzuhalten: regelmäßige Schwangerschaft. So wundervolle, einzigartige voreheliche Liebeslieder Schumann schreiben kann, so wenig einfühlsam ist er als Gatte.

Jene Erlebnisintensität und übersteigerte Innenwahrnehmung wird zu Schumanns Schwungrad und Geißel, und am sichersten fühlt er sich als Komponist, wenn er für kleine Ensembles schreibt. Geselligkeit kann aber auch der private Schumann nur in Maßen ertragen, häusliche Einsamkeit ist der liebste Rückzugsort des notorischen Stubenhockers. Sein ergreifend zarter  Liedzyklus "Dichterliebe" fixiert das Ich als Hauptperson auf ihrem tränenumflorten Weg der Liebe – von dem ersten Geständnis bis zum nassen Tod der Seebestattung.

Auf Dauer kann und darf Schumann nicht nur Lieder und Klaviermusik komponieren, sein hungriger Sinn will hinaus in die Welt der Ökonomie, des Wettbewerbs. Schumann möchte als umfassender, öffentlicher Komponist weithin geachtet sein, nicht nur als Miniaturist. So weitet sich die Kammermusik zur Symphonik, zu Oratorien, Konzerten, Chören, geistlichen Werken. Opern wird Schumann bergeweise planen, nur eine kommt durch: "Genoveva", oft verschmäht, in Wirklichkeit ein Hauptwerk, altbacken im Stoff, musikalisch mit fabelhaften Passagen.
Der romantische Künstler Schumann, der so freisinnig für seine Ideale ficht, steht dauernd unter Zwängen. Der anstrengendste ist die Pflicht, für Orchester zu schreiben. Das gelingt mit wechselndem Erfolg. Oft wurde Schumanns Orchestersatz benörgelt, manchmal nicht zu Unrecht. Allerdings sind die Symphonien später – etwa von Mahler – dermaßen vergröbert worden, dass ihr jähes Feuer und ihre grandiose Expressivität gar nicht herauskommen. Und die Urfassung der Vierten explodiert wie ein Geniestreich, auch formal. Die "Frühlingssinfonie" ist ein heimliches Meisterwerk, notabene ein Fieberschub des Aufschwungs.

Komponisten pflegen meistens von chronischen Krankheiten begleitet zu sein. Bei Schumann ist es eine Mixtur aus manisch-depressiven Zügen und einer 1831 erworbenen Infektions- krankheit, der Syphilis. Sie wirft bald ihre Schatten über den sensiblen Komponisten, der sie fürchtet wie ein Gespenst. In den frühen 50er Jahren kommt sie fulminant zum Ausbruch und führt zu zentralen Defekten im Wahrnehmen und Denken. Der Selbstmordversuch am Rosenmontag 1854 in Düsseldorf ist ihr Finale. Ob man die Krankheit hören kann? Nun, Neurosyphilis in ihrer vollen Ausprägung, wie sie bei Schumann vorlag, bewirkt ein so zerstörerisches Krankheitsbild, dass der Patient wohl kaum normal weiter auf phantastisch hohem Niveau komponieren konnte. In der Tat, er kann wirklich nicht mehr und schreibt eng, bedrängt, unfrei.

Heutzutage sehen wir Schumann insgesamt differenziert und dürfen glauben, dass auch der geniale Prophet Schumann zuweilen wertvollen Durchschnitt komponierte. Der Stapel seiner Gipfelwerke ist hoch, und diese Einschränkung bringt ihn nicht zum Einsturz. Sollte einer Schumann erst kennenlernen wollen, müsste man ihm auch die leiseren Töne empfehlen: die Nachtstücke, die Streichquartette – und die Märchenerzählungen, in denen Schumann sich so behaglich fühlte. In dieser Musik, zu zweit gespielt, war sein Glück unangefochten perfekt, privat, der Welt der Philister und Dämonen entrückt.

Quelle: Rheinische Post