Robert Schumann op. 76

Robert Schumann

Vier Märsche für Klavier op. 76 

Anfang Mai 1849 erreichte die Welle der europäischen Revolutionen auch Dresden, wo der König ins Exil getrieben und eine Gegenregierung aufgestellt wurde. Ein Großteil der in Dresden lebenden Künstler stellte sich spontan auf die Seite der republikanischen Garden und versuchte, auch an den Kämpfen teilzunehmen. Zwar bewies auch Schumann stets eine klare demokratische Einstellung, flüchtete in diesem Fall jedoch, da man ihn zu einer „Sicherheitswache“ einziehen wollte, mit seiner Familie auf das Schloss und Rittergut Maxen zu dem befreundeten Ehepaar Friederike und Major Friedrich Anton Serre, die gleichfalls republikanisch gesinnt waren. Kurz darauf übersiedelte die Familie in das südlich von Dresden gelegene Dorf Kreischa, wo sie bis in den Juni hinein blieben. Von dort aus erlebte Schumann mit wachsendem Entsetzen die Schrecken der Revolution, die schließlich mit unglaublicher Brutalität von den preußischen Truppen niedergeschlagen wurde. Resignierend verfolgten Clara und Robert Schumann die nun fortschreitende Restaurierung der alten konservativen Gewalten und ihre ̈C nach der Rückkehr Mitte Juni ̈C in gleichem Maße zunehmende Isolierung in der Dresdner Gesellschaft. Im gegenüber Leipzig äußerst rückständigen, vom aristokratischen und höfischen Denken geprägten Dresden hatten sie sich nie recht wohl gefühlt, was sich nun nur noch verstärkte.
Vom Komponieren hielt dies Schumann dennoch zu keiner Zeit ab. Seinem republikanischen Eifer macht er schließlich Luft, als er auf dem Rückweg aus der Evakuierung am 12. Juni den ersten der Vier Märsche op. 76 schreibt. Die übrigen drei entstehen zusammen mit einem fünften in den nächsten vier Tagen. Der letztgenannte wird erst 1852 in der Sammlung Bunte Blätter op. 99 als Nr. 14 „Geschwindmarsch“ veröffentlicht. Umgehend schickt Schumann seine vier Märsche dem Verleger Friedrich Whistling nach Leipzig, mit dem Hinweis, „Sie erhalten hier ein paar Märsche ̈C aber keine alten Dessauer ̈C sondern eher republicanische“. Der Anlass ihrer Entstehung solle in Gestalt des Datums „1849“ besonders groß auf dem Titelblatt gedruckt erscheinen. Des weiteren fordert er zur „Gleichstimmung“ der äußeren Ausstattung mit dem Inhalt der Komposition ebenfalls einen besonders großen Notendruck sowie eine noch größere Schrift für das Titelblatt. Der Verleger erfüllt diese Vorstellungen weitgehend. Sobald die Märsche im August 1849 erschienen sind, erkundigt Schumann sich höchst interessiert nach deren Absatz. Sofort sendet er ein Exemplar an Franz Liszt mit der enthusiastischen Bemerkung: „Eine Neuigkeit leg‘ ich bei IV Märsche es soll mich freuen, wenn sie Ihnen zusagen. Die Jahreszahl, die darauf steht, hat diesmal eine Bedeutung, wie Sie leicht sehen werden. O Zeit ̈C O Fürsten ̈C O Volk!“ Und obwohl die Revolution längst gescheitert ist, findet auch der Rezensent im November 1849 in der Neuen Zeitschrift für Musik die Intention der Märsche verständlich und immer noch aktuell.
Nur selten gibt es in Schumanns Klavierschaffen Stücke, die ausdrücklich als „Marsch“ bezeichnet sind. Eine Ausnahme bildet hier der Marche des „Davidsbündler“ contre les Philistins aus dem Carnaval op. 9. Ansonsten legt Schumann wenig Wert darauf, dieses Genre mit eigenen Beiträgen zu bereichern. Über die immense Marschproduktion seiner Zeitgenossen indessen ist er in seiner Eigenschaft als Musikkritiker bestens informiert, hegt persönlich eine tiefe Abneigung gegen die so genannten „Alten Dessauer“. Seiner Ansicht nach sollen Märsche ̈C wenn überhaupt ̈C nur als Charakterstücke konzipiert werden, eine Forderung, die er dann mit seinen Märschen op. 76 einzulösen versucht: Tonartlich bilden die Märsche einen geschlossenen Zyklus, während der prägnante Marschrhythmus ständig variiert und verfremdet wird.
Die Vier Märsche op. 76 stellen zudem in Schumanns gesamtem Œuvre den einzigen Fall einer im konkreten Sinne politisch engagierten Komposition dar, das beinahe melancholische Zitat der Marseillaise im lyrischen Trio-Teil des letzten Marsches beklagt quasi den Niedergang der Revolution. Darüber hinaus finden sich in einigen anderen Werken des Jahres 1849 nur indirekt Reflektionen auf die gesellschaftlichen und politischen Umstände der unruhigen Zeit. Insgesamt stellt dieser Zeitraum trotz der ungünstigen äußeren Bedingungen für Schumann eine sehr glückliche und schaffensreiche Periode dar, so dass er 1849 später als sein „fruchtbarstes Jahr“ bezeichnet.

(Irmgard Knechtges-Obrecht)