Spieglein, Spieglein an der Wand

«Genoveva», die einzige Oper von Robert Schumann, in Zürich

Peter Hagmann (Neue Zürcher Zeitung, 19.2.2008)

Seelenraum, schon arg beschmutzt – Schumanns «Genoveva» im Opernhaus Zürich (Bild: Karin Hofer)

In hellem Weiss, nein: in blendendem Weiss, nein: in klinischem Weiss – so präsentiert sich die Guckkastenbühne, die auf einem fahrbaren Podest steht und sich in dem für diesen Abend ganz mit schwarzem Holz ausgekleideten Bühnenraum des Opernhauses Zürich vor- und rückwärts bewegt. Sie stellt das Zimmer und zugleich das Innere von Golo dar, und Golo hat die Aufgabe, für Genoveva zu sorgen, die eben angetraute Gattin des Grafen Siegfried, der sich in die Pflicht genommen sieht und in den Krieg ziehen muss. Das kann nur schlecht ausgehen, denn zum einen ist Golo unsterblich in Genoveva verliebt, und zum anderen spinnt Golos Amme Margaretha eine Intrige, die restlos aus dem Ruder läuft und rasch Tote fordert. Höhepunkt stellt der Blick Siegfrieds in einen Wunderspiegel dar, der nicht selbst erlebte Vergangenheit sichtbar und die Katastrophe endgültig macht. Am Ende freilich und etwas rasch fügt sich alles doch wieder zum Guten, kann der Bund fürs Leben vom zuständigen Bischof ein zweites Mal gesegnet werden.

Die Oper «Genoveva» von Robert Schumann, von der hier die Rede ist, sei keine Oper, darum habe es das Werk so schwer auf der Bühne. Immer und immer wieder ist es bekräftigt worden, zumal durch die konzertanten Wiedergaben, zu denen Schumanns Werk in der jüngeren Vergangenheit bestenfalls gefunden hat. Bis heute in Erinnerung steht die eindrückliche, durch szenische Andeutungen bereicherte Aufführung unter der Leitung von Heinz Holliger 1992 beim Basler Musik-Forum. Vier Jahre später nahm Nikolaus Harnoncourt Schumanns Werk auf CD auf – und jetzt konnte er sich am Opernhaus Zürich, wo er Monteverdi ausgegraben, Mozart einer anderen Lesart zugeführt und Webers «Freischütz» in neues Licht gestellt hat, den Wunsch erfüllen, «Genoveva» auf die Bühne zu bringen. Ein grosser Abend ist daraus geworden – gross nicht zuletzt in der Bestätigung dessen, dass das Stück tatsächlich keine Oper ist.

Für die Ritterromantik, in die Schumann als sein eigener Textdichter den auf Ludwig Tieck und Friedrich Hebbel zurückgehenden Stoff gekleidet hat, mag sich der Regisseur Martin Kusej nicht erwärmen. Wenn zeitlich situiert wird, dann in der Entstehungszeit des Stücks 1847/48, auf welche die Kostüme von Heidi Hackl verweisen. Erst recht nicht wird das Geschehen bei Kusej zu einer Geschichte mit Anfang und Ende; «Genoveva» erscheint bei ihm als ein tiefer Blick in eine Seele – die von Golo eben. Als schwärmerisch veranlagter, mit Phantasie gesegneter Geist entwirft er sich die Frau als Heilige (Genoveva) wie als Tier mit extremem sexuellem Duft (Margaretha). Und gespalten, wie er ist, kämpft er mit einem schwankenden Männerbild; auf der einen Seite steht der durch ihn selbst repräsentierte Drang zum Erfinden einer eigenen, besseren, dem Gefühl gehorchenden Welt, auf der anderen die unbedingte Loyalität als Untergebener und das durch nichts, erst recht nicht durch eine liebende Frau in Frage gestellte Pflichtgefühl, wie es Siegfried verkörpert.

Interessant, dieser Ansatz, und insofern plausibel, als er auf Schumann selbst zurückgreift: auf den jungen Komponisten, der sich in der Gefühlsaufwallung für seine spätere Frau Clara dem störrischen Friedrich Wieck gegenübersah, wie auf den Erfinder von Eusebius und Florestan als zwei ganz und gar konträren Erscheinungsformen seiner selbst, der sich vier Jahre nach der Leipziger Uraufführung von «Genoveva» (1850) in den Rhein stürzte. Zugleich trifft sich Kusej in seinem Zugriff mit dem Dirigenten Nikolaus Harnoncourt, der in Schumanns Stück nicht eine Oper hergebrachter Art, sondern eine ganz neue Ausprägung des Genres sieht. Was sich hier ereigne, so Harnoncourt, ereigne sich weniger auf der Ebene des Dramas als in der Musik und dort weniger in der ausgreifenden Vokallinie als im Orchester. Nämlich in einer musikalischen Konstruktion, die in jeder ihrer Ausprägungen auf den Choral zurückzuführen sei, der am Anfang des Stücks, unmittelbar nach der Ouverture, exponiert wird.

Alles Hypothesen, gewiss, aber kreative. Und als solche Voraussetzungen für jenen Akt der Interpretation, ohne den Musik nicht zu uns kommt. Zum Ereignis wird der Zürcher Abend jedoch durch die Kompromisslosigkeit und die Schärfe, mit denen die Ansätze durchgeführt werden. Schon in der Ouverture zeigt Harnoncourt – und wenn das Orchester der Oper Zürich mit seiner ungewohnten Aufgabe noch mehr vertraut ist, wird das noch besser zu hören sein –, wie hier schon das ganze Geschehen ausgelegt ist: im Rahmen einer sinfonischen Dichtung avant la lettre . Und dann lässt gleich das erste Bild erkennen, wie radikal Kusej vorgeht. Taghell ist das von Rolf Glittenberg entworfene weisse Zimmer erleuchtet, die vier Hauptfiguren sind alle schon da, und sie werden durchgehend dableiben. Der von Ernst Raffelsberger vorbereitete Chor (mit seinen doch arg vibrierenden Frauenstimmen) singt dagegen aus jenem schwarzen Off, in welches alles Kolorit verbannt ist – wie übrigens auch Hidulfus (Ruben Drole) nicht als Bischof, sondern als Bürger gehobenen Standes erscheint. Und gleich folgt die ebenso schöne wie aussagekräftige Arie, in der Golo seinen Seelenzustand schildert; Shawn Mathey bewältigt sie stimmlich tadellos, in der englisch verfärbten Diktion bleiben allerdings Wünsche offen.

Seelenporträts

Golo, der unehelich geborene Aussenseiter, ist als Künstler gezeichnet. Ihm gegenüber steht der felsenfest in sich und seiner Bestimmung als Held ruhende Siegfried, dem Martin Gantner mit seinem äusserst kernigen Timbre und seinen krass nach unten gezogenen Mundwinkeln geradezu ideale Figur gibt. Ebenfalls ganz in sich geschlossen die schöne Genoveva; mit ihrem stimmlichen Liebreiz und ihrer szenischen Agilität stellt Juliane Banse die unantastbare und gerade darum die männliche Begierde weckende Frau in helles Licht. In herbem Gegensatz dazu steht die Kundry-hafte Margaretha von Cornelia Kallisch, während Alfred Muff als schleimig unterwürfiger Drago seinen grossen Moment hat, wenn er mit Donnerstimme als steinerner Gast auftritt. Dass sich trotz diesem Theatereffekt in «Genoveva» eigentlich nichts ereignet, wird geradezu quälend deutlich. Und sehr bedrängend die szenische Ausdrücklichkeit: der rasche Schnitt durch die Kehle, die zunehmende Verschmutzung des weissen Zimmers durch den Dreck des Pöbels und durch Blut, die äusserst kunstvoll gemachte Nacktheit. Das ist Kusej; mit Hermann Nitsch oder Calixto Bieito hat das nur am Rand zu tun.

Und musikalisch kommt es noch und noch zu Momenten packender Intensität – obwohl, wenn der Eindruck nicht täuscht, merklich langsamere Tempi herrschen als auf der CD-Einspielung. Auch hier arbeitet Harnoncourt eben nicht nur mit dem Orchesterklang als Ganzem, sondern genauso sehr aus den einzelnen Stimmen und den Instrumentalfarben heraus. Und auch hier spitzt er die Kontraste zu, lässt er schneidende Akzente einfahren und bringt er die musikalischen Gesten zu eindringlicher Form. So erhält, was klingt, Kontur und Profil, zumal das Orchester, freilich nicht auf Kosten der Stimmen, deutlich in den Vordergrund gerückt ist. Und klar zu fassen sind der grenzgängerische Wert des Stücks wie seine Modernität. Ob «Genoveva» ins Repertoire findet, darf hier und jetzt dahingestellt bleiben; dass im Opernhaus Zürich eine Ehrenrettung auf höchstem Niveau unternommen wird, steht aber ausser Frage.