Musik und Wahnsinn

Kölner Stadtanzeiger, 29.07.2006

Robert Schumann, der deutsche Romantiker, ist vor 150 Jahren gestorben.
Der Komponist, der in Bonn beerdigt ist, hat die Tonkunst befreit.

VON MARKUS SCHWERING

2006 ist das Superjahr der musikalischen Jubiläen. Die Kulturwelt feiert vor allem Mozarts 250. Geburtstag, darüber hinaus aber auch den 100. von Schostakowitsch und den 80. von Hans Werner Henze. Und sie begeht den 150. Todestag des deutschen Romantikers Robert Schumann.

Die Umstände von Schumanns Tod am 29. Juli 1856 - also heute vor 150 Jahren - in einer privaten Nervenheilanstalt in Bonn-Endenich sind eher bedrückend: Der Mann, der mit seiner Musik einst der Kunsterfahrung völlig neue Räume aufgeschlossen hat, ist am Ende seines 46 Jahre währenden Lebens nur noch ein Schatten seiner selbst. Sein Gedächtnis ist weitgehend erloschen, er hat die Fähigkeit verloren, sich zu artikulieren, man beobachtet allenfalls krampfhafte Sprachbemühungen. Fortschreitende Lähmungen haben auch seiner Lieblingsbeschäftigung während der beiden Endenicher Jahre ein Ende gesetzt: dem Herausschreiben geographischer Namen aus dem Atlas in alphabetischer Folge.

Selbstredend komponierte Schumann in der Heilanstalt des Doktor Richartz auch nicht mehr. Sein letztes Werk, die Es-Dur-Klaviervariationen, war im Februar 1854 in Düsseldorf entstanden, wo er seit 1850 als städtischer Musikdirektor mit seiner Familie gelebt und gearbeitet hatte. Das Thema, so behauptete der von Gehörhalluzinationen heimgesuchte Schumann, hätten ihm die Geister Mendelssohns und Schuberts eingegeben.

Am 27. Februar 1854, zehn Tage nach dessen Notat, fertigt Schumann eine Reinschrift der Variationen an - ein geradezu kalligraphisches Dokument und offenbar das Ergebnis einer konzentrierten Arbeit, das keinerlei Hinweise auf das gibt, was dann geschieht: Schumann springt zur Mittagszeit plötzlich auf, läuft in Hausschuhen und geblümtem Schlafmantel auf die regennasse Straße und zur nahen Rheinbrücke. Die absonderliche Aufmachung fällt niemandem auf, denn in Düsseldorf wird Karneval gefeiert, und alle Welt ist maskiert. Auf der Brücke wirft Schumann zunächst seinen Ehering in die Fluten - und springt dann selbst hinterher. Schiffsleute holen ihn aus dem eiskalten Rheinwasser, tragen den Triefenden und Schlotternden durch den närrischen Jubel in seine Wohnung in der Bilker Straße.

Was hat zu diesem Selbstmordversuch geführt? Wollte Schumann - in dem Bewusstsein, wahnsinnig zu werden - ein Ende mit Schrecken statt einen Schrecken ohne Ende? War ein Streit mit Ehefrau Clara vorausgegangen, bei dem diese ihm nahe gelegt hatte, ins Irrenhaus zu gehen? Wir wissen es nicht - wie auch die Diagnose bis heute nicht gesichert ist. Höchstwahrscheinlich wurde Schumann Opfer einer Paralyse, einer Erweichung und Schrumpfung des Gehirns.

Schumanns Leben hatte freilich seit früher Jugend unter der dunklen Sonne des Wahnsinns gestanden. Teils kokettierte er mit ihm, teils fürchtete er, ihm zu verfallen. Die Quellen dokumentieren stets neue physische und psychische Krisen. Schumann litt unter rheumatischen Anfällen und unter Bluthochdruck, der sich in Schwindelanfällen und Schlaflosigkeit auswirkte. Hinzu kam die extreme Kurzsichtigkeit. All dies verband sich mit depressiven Schüben, Angstgefühlen, Verfolgungswahn - lange vor der Katastrophe des Jahres 1854.

Das war allerdings auch ein Zeitphänomen - und insofern ein Stück Rollenspiel. Die Romantik neigte dazu, den Wahnsinn als eine Art höherer, die künstlerische Produktivität stimulierender Gesundheit anzusehen. In die Mitte seines Künstlertums führt indes die Frage, ob der "wahnsinns-affine" Schumann vielleicht auch "wahnsinnige" Musik geschrieben hat. Man höre nur einmal den ersten Satz der 1838 entstandenen "Kreisleriana". Da geht es nicht ganz geheuer zu: Hier steht nichts mehr an dem Platz, wo es eigentlich hingehört: Die linke Hand etwa ist gegenüber der rechten so verschoben, dass nicht nur das metrische Gefühl, das Gefühl für den Taktstrich, völlig verloren geht. Vielmehr schlagen auch die Harmonien im Bass nach, so dass zwischen rechter und linker Hand harte Dissonanzen entstehen - was eigentlich simultan erklingen müsste, tut dies gerade nicht. Kein Zweifel: Diese Musik des 28-jährigen Schumann hat etwas Abseitiges, ja, auch Irrsinniges. Freilich: Der Name "Kreisleriana" bezieht sich auf eine literarische Gestalt. Johannes Kreisler heißt eine der Schlüsselfiguren im Werk E. T. A. Hoffmanns, ist dort ein genial-exzentrischer Kapellmeister, der am Unverständnis seiner Umwelt scheitert - und wahnsinnig wird. Der "Wahnsinn" der Musik ist also fürs Erste dieser Figur zuzurechnen, nicht Schumann.

Schumann hat sich nach 1840 von der exzentrischen Welt seiner frühen Klavierwerke getrennt, die wilden Fantasieblumen gezähmt, seine Werke fasslicher und formbewusster gestaltet, sich selbst gleichsam diszipliniert. Das intensive Studium Bach´scher Werke etwa sollte dem eigenen Schaffen jenes Rückgrat geben, das der Komponist selbst zu vermissen schien. Dazu passt auch, dass er streckenweise versuchte, sich im Jahresrhythmus bestimmte Gattungen zu erarbeiten: 1840 war das berühmte "Liederjahr", 1841 das "sinfonische Jahr", 1842 das Jahr der Kammermusik und 1843 das des weltlichen Oratoriums. Ein abstruses, ganz sachfremdes Ordnungsprinzip, wie es scheint. Aber angesichts von Schumanns Furcht, dass ihm die eigene Existenz entgleiten könnte, wurde es als Gegenhalt wohl dringend benötigt. Besteht also - in seinem Fall - doch ein starker Zusammenhang zwischen Musik und Wahnsinn? Genauer: War es die seelische Instabilität, die dann auch die kreativen Räusche zeitigte?

Die Antwort muss letztlich offen bleiben. Festzuhalten aber gilt es dieses: Als Schumann zu komponieren begann, befand sich die Musikproduktion zu weiten Teilen in einem Stadium epigonal-klassizistischer Erstarrung, in dem die Impulse zumal des Beethoven´schen Werkes noch fortwirkten, ohne etwas wirklich Neues zu zeitigen. Aus dieser Sackgasse hat Schumann die Tonkunst herausgeführt: Gerade in seiner frühen, fantastischen Klavierphase hat er dem Instrument völlig unbekannte Ausdrucksbereiche erschlossen, hat durch die Erfindung eines neuen Stils und einer neuen, sich von den Modellen der Wiener Klassik radikal absetzenden Formensprache der musikalischen Romantik recht eigentlich die Bahn gebrochen. Nämliches gilt für das Klavierlied und die Sinfonie.

Zentrum von Schumanns Komponieren ist das "Poetische". Dieses Poetische meint zum einen die Bezugnahme der Musik auf literarische Sachverhalte. "Kennen Sie nicht Jean Paul, unseren großen Schriftsteller?", heißt es in einem Brief von 1839: "Von diesem habe ich mehr Kontrapunkt gelernt als von meinem Musiklehrer." Vor allem aber meint das "Poetische" einen Zustand, in dem sich die Grenzen zwischen Wort und Ton auf magische Weise auflösen - und wo die Musik es ist, die in Bereiche vorstößt, die der Wortsprache letztlich verschlossen bleiben. Ins Unsagbare also.

Wer Schumanns Werk in einer wahrhaft großen Interpretation hört - etwa derjenigen des Pianisten Claudio Arrau -, bei dem vermag sich eine Ahnung dieses Unsagbaren einzustellen. Zumindest erkennt er, dass Schumann in einer Weise komponiert hat wie keiner vor und keiner mehr nach ihm.

Lebensdaten

Robert Schumann wird am 8. Juni 1810 in Zwickau geboren.

Seit 1828 Jura-Studium in Leipzig und Heidelberg. Außerdem Klavierunterricht bei Friedrich Wieck, seinem späteren Schwiegervater. Den Plan einer Pianistenlaufbahn muss er aufgeben, weil er sich durch übermäßiges Üben die Lähmung eines Fingers zuzieht.

Von 1829 bis 1839 entsteht das geniale frühe Klavierwerk, mit dem Schumann neue Maßstäbe in der Komposition für Klavier solo setzt.

1834 gründet er mit anderen Musikern die "Neue Zeitschrift für Musik", in der er u. a. auch seine berühmten Aufsätze über Chopin und Brahms veröffentlicht.

1840 Nach erbitterten Auseinandersetzungen mit Wieck Heirat mit dessen Tochter Clara, einer bedeutenden Pianistin. Das Paar hat acht Kinder. Im "Liederjahr" 1840 entstehen die meisten von Schumanns Sololiedern.

1843 Schumann wird Lehrer am neugegründeten Leipziger Konservatorium. Freundschaft mit Felix Mendelssohn Bartholdy.

1844 Übersiedlung nach Dresden. Dort Bekanntschaft u. a. mit Richard Wagner. Immer neue gesundheitliche Krisen.

1850 Übersiedlung nach Düsseldorf, wo er das Amt eines Städtischen Musikdirektors antritt. Intensive kompositorische Tätigkeit.

1853 Aufgabe dieses Postens nach einer auf ihn zielenden öffentlichen Kampagne gegen "schlechte und schlecht aufgeführte Musik". Freundschaft mit dem jungen Johannes Brahms. Fortschreitendes Nervenleiden.

1854 Nach einem Sprung von der Düsseldorfer Rheinbrücke an den Karnevalstagen wird er in eine Nervenklinik in Bonn-Endenich gebracht.

29. Juli 1856 Tod in Endenich in geistiger Umnachtung. (MaS)