So lebendig wie nie

Von Wolfram Goertz

Robert Schumann kannte sich mit Sehnsüchten, kaltem Besitzdenken und dem Wahnsinn aus. In Zürich wird seine unterschätzte Oper »Genoveva« glanzvoll wiederentdeckt.

In einer Irrenanstalt spielt diesmal die mittelalterliche Schauerlegende von Genoveva und ihrem Gatten Siegfried  © Hans Jörg Michel

Kein gräflicher Saal, sondern eine Zelle. Weiß getüncht, fensterlos, nicht einmal ein Handtuch am Waschbecken. So sehen Zimmer in einer geschlossenen Anstalt aus. Im Toilettenspiegel schauen schwer Therapierbare und Verwundete in steinerne Gesichter: Pfalzgraf Siegfried, der mit seelenlosem Eifer in den Krieg zieht. Seine Gattin Genoveva, die Siegfrieds hartherzigen Abschied nicht erträgt und zu Boden sinkt. Ritter Golo, der auf sie aufpassen soll, aber die Ohnmächtige aus lange unterdrückter Liebe küsst. Margaretha, die Zauberin, die sich an Siegfried rächen will und Golo zu einer ruchlosen Intrige anstiftet.

Martin Kušej holt Robert Schumanns Genoveva im Opernhaus Zürich aus der Ferne einer mittelalterlichen Schauerlegende ganz nah heran, zoomt auf das Klinische. Der Regisseur erzählt die Geschichte mit dem Wissen um das Geschick ihres Komponisten, der sich mit verbotenen Sehnsüchten, kaltem Besitzdenken und einer domestizierten Ehefrau, mit dem Wahnsinn und schließlich mit der Irrenanstalt von Bonn-Endenich auskannte. Der Romantiker Schumann, der Himmelsstürmer und Patriarch, Freigeist der Liebe und Philister in einer Person war, ist Kušej vertraut. Handelt von diesen Widersprüchen vielleicht die Oper als solche? Haben die Figuren auf der Bühne mit Schumann selbst zu tun?

Genoveva, 1850 in Leipzig uraufgeführt, hat es auf den Bühnen nicht zum Klassiker gebracht, das Werk gilt als schwachbrüstig, dramaturgisch zerfahren. Schumanns Orchestersatz kommt selbst den Fans des Komponisten wie Töpferhandwerk vor, die Story finden sie krude. Diagnose: Viel Text, viel Pathos, dazwischen bemühtes Parlando, kaum arioses Strömen, keine Höhepunkte, immer spielen zu viele Instrumente gleichzeitig. In der Tat, Schumann wähnte sich damals im Niemandsland der Operngeschichte. Sein Heil suchte er im Positivismus. Das Finale, in dem Siegfried der schuldlos zum Tod verurteilten Genoveva in letzter Minute beispringt und die Ehe befriedet, protzt als Orgie in gleißendem Dur. Den Textvorlagen Hebbels und Tiecks spricht das Hohn; die beiden Dichter hatten Genoveva in den Abgrund einer tödlichen Tragödie gestürzt. Dazu konnte sich Schumann nicht durchringen. Er musste zeigen, dass Rettung aus Disziplin erwächst.

In dieser Schleiflackhölle entsteht ein Charakterbild des Komponisten

Mancher hat womöglich geahnt, dass dieser durch »Heil«-Rufe betonierte Final-Schutzwall gegen allen Zweifel etwas Gebrochenes, Hohles hat. Nur hat sich noch keiner getraut, ihn dermaßen als Bollwerk zu musizieren wie Nikolaus Harnoncourt. Der Schumann-erfahrene Dirigent hat Genoveva schon früh auf Platte aufgenommen; jetzt kann er zeigen, welche Qualitäten die Musik besitzt. Während das Blech also Zement ausgießt, schneidet Harnoncourt anderswo jedes trübe Vibrato der Streicher weg, er platziert die Holzbläser ins Zentrum des Grabens und lässt sie lyrisch und in drängender Dynamik aufbegehren, überhaupt ist da ein Wachsen und Sehnen in Schumanns Genoveva-Sprache, das so noch nie zu hören war. Sie dringt wie süßes, leises Gift durch die löchrigen Mauern des Klangs. Wenn das Volk nach Genovevas Hinrichtung giert, fahren die hohen Flöten auf, als habe Hector Berlioz sie geschickt. Wenn Himmelsstimmen von Erlösung singen, herrscht fast Parsifal-Zauber. Wenn die Hörner mit derbem Schall vom Leben künden, hört man sie bei Harnoncourt als die verzweifelten Laute der Natur, die ins Innere der Figuren drängen und aus ihnen herausdröhnen, als sei alles Humane in Wirklichkeit ein einziger Schrei. Er kommt, so ahnen wir bald, aus der zerrissenen Seele ihres Schöpfers.

Bei Kušej steht Robert Schumann tatsächlich als multiple Persönlichkeit auf der Bühne, aufgespalten in den knochentrockenen Siegfried und den enthusiastischen Golo. In Genoveva sehen wir eine reine Magd – und sehen mithin Clara Schumann, geborene Wieck, die Robert erst dem Vater entriss und dann zum Heimchen am Herd machte. Auf der Bühne ist Kušejs hellsichtige Verfremdung mehr als ein Laborversuch. Sie entwirft das Psychogramm des Komponisten.

Deswegen dürfen, ja müssen alle Figuren immerzu stier und unfroh in Rolf Glittenbergs Schleiflackhölle ausharren, ein Alter Ego neben dem anderen, sie haben das Reden nie gelernt und die Zärtlichkeit verloren – und wenn einer heftig liebt wie Siegfrieds Findelkind Golo, dann ist es »Wahnsinn«, wie Genoveva ruft, schändlicher Trieb eines Bastards. Notabene, der junge Schumann war, als er Clara eroberte, selber ein Golo, draufgängerisch, vaterlos und von altem Friedrich Wieck zunächst wie ein Ziehsohn umsorgt. Das macht uns diesen Golo sympathisch, der dem jungen Robert bis aufs Haar gleicht. Aber emotional erreichen wird er Genoveva nicht, obschon Shawn Mathey ein respektabler Tenor ist und Siegfried (Martin Gantner) nur ein knorriger Bariton. Genoveva ist das Fleisch gewordene Passiv. Juliane Banse singt die Partie so diskret, dass ihre Spitzentöne hysterisch herausplatzen. Das klingt manchmal nicht schön – aber wahrhaftig.

Der Regisseur Martin Kušej behandelt das Stück erfolgreich psychoanalytisch

Kušej erzählt uns vom Inneren der Seelen. Wenn Siegfried in die Schlacht zieht, drückt er Genoveva einen läppischen Kuss auf die Stirn – entkommen kann er dem Raum nicht. Er wird den Kuss sieben-, achtmal wiederholen, das sieht zwanghaft aus, wie surrealistische Minimal Art. Später wird der Winkel hinter der Tür zum Versteck, mal steht der Diener Drago dort, mal Siegfried, mal Golo. Dieser Tür ist ebenso wenig zu trauen wie den Gefühlen und der Treue überhaupt, doch damit am Ende Demut und Ordnung herrschen, stellt das Volk dieses Totenhaus mit lauter Madonnenstatuen voll. Ave Maria. Ruhe sanft, Genoveva. In Wirklichkeit ist diese klösterliche Frau nie so lebendig gewesen wie heute. Genoveva hat vermutlich sogar das Zeug zum Klassiker. Sie musste offenbar den Umweg über die psychoanalytische Praxis von Doktor Kušej und Doktor Harnoncourt gehen.

DIE ZEIT, 21.02.2008 Nr. 09