Der Endenicher Patient

DIE ZEIT Nr.30 vom 2006-07-20, Seite 45
Literatur
von Goertz, Wolfram

Vor 150 Jahren starb Robert Schumann. Nun liegen endlich die Krankenakten als Buch vor

Dieses Buch bietet keinerlei Lesevergnügen. Es ist die nüchterne Chronik eines Verfalls. Es handelt sich um Krankenakten, die über die Dauer von zwei Jahren geführt wurden. Die medizinischen Eintragungen sind gleichwohl von höchstem Interesse. Sie öffnen den bislang verstellten Blick auf die letzten Jahre eines großen Künstlers.

Diese Eintragungen wiederholen sich mit zuverlässiger Knappheit.

Notizen über Stuhlgang, Klistiere, Bäder, Puls, Speichel, Schleimrasseln, Einflößungen, Schuldgefühle, Wahnvorstellungen, Lallen, Anfälle, Apathie, Agonie. Der Obduktionsbefund ist ein Protokoll darüber, wie sich ein Toter in Einzelteile auflöst. Leider ist das Buch auch ein schlechtes Lehrstück darüber, wie diesem Toten auf wissenschaftlich anfechtbare Weise das Kainszeichen jener Krankheit abgewischt werden soll, die mit ihrem schrecklich langen Atem vermutlich zu seinem Tode führte.

Der langsam Verbleichende und schließlich vor 150 Jahren am 29.Juli 1856 um 16 Uhr still und sanft Verblichene war ein anerkanntes Genie, an dessen Schicksal auch Nichtmediziner seit jenen Jahren empathisch Anteil nahmen: Robert Schumann, der fieberhaft arbeitende und fantasierende Großkomponist der deutschen Romantik. Er war 1854 in die Nervenheilanstalt Bonn-Endenich eingeliefert worden, nachdem er sich mitten im Karneval im Rhein zu Düsseldorf das Leben hatte nehmen wollen. Mit diesem Sprung ins Wasser endete sein öffentliches Dasein.

Die verbleibenden zwei Jahre gehörten dem medizinischen Stenogramm des Franz Richarz, der mit seinem Kollegen Eberhard Peters seinen Patienten Tag für Tag musterte. Schumann war der Welt abhanden gekommen, seine Frau Clara bekam ihn nur noch einmal zu Gesicht kurz vor seinem Tod.

Was in diesen mehr als zwei Jahren geschah, blieb lange Zeit der Mutmaßung vorbehalten, denn die Krankenakten galten als verschollen.

Wie behandelten die Ärzte Schumann? Sahen sie den Tod kommen? Wie reagierte Robert? Wann ging teilnehmendes Leben in Siechtum über? Und hatte ihn wirklich, der Abendstern über allen Fragen, die venerische Geißel der Zeit auf dem Gewissen die Syphilis?

Jetzt liegen die klinischen Eintragungen jener Jahre endlich als Buch vor: Robert Schumann in Endenich (18541856): Krankenakten, Briefzeugnisse und zeitgenössische Berichte, herausgegeben von Bernhard R.Appel, mit einem Vorwort des Komponisten Aribert Reimann.

In dessen Privatbesitz waren die Akten als Erbschaft gelangt, die auf familiären Pfaden direkt aus Endenich kam: Reimanns Onkel war der Patensohn von Richarz Schwiegertochter. Es lag ein Bann auf diesen Akten: strengstes Stillschweigen.Richarz hatte die Schweigepflicht sehr ernst genommen und das Material der Nachwelt vorenthalten.

Nach langer Überlegung zerschlug Reimann den Knoten aus Pietät, Datenschutz und Öffentlichkeitspflicht. Ein Impuls war der Wunsch, einen Schlussstrich unter »Verleumdungen und abenteuerliche Erfindungen« über Schumanns Endenicher Zeit zu ziehen. Das mag eine zulässige Motivation sein, wenn man glaubt, in Schumanns Nachwelt tummele sich viel Halbwelt, ein Volk von Klitterern, Sensationsschleichern und Mystagogen, die bar aller Fakten nur Märchen erzählen etwa dasjenige von Claras Freude an der Abschiebung Roberts, damit sie endlich Zeit für den jungen Johannes Brahms habe.

Diese Vermutung löst das Buch tatsächlich in Luft auf. Appel hat nämlich in chronologischer Folge die ärztlichen Notate klug mit Briefen und Notizen von Clara, Brahms und anderen bereichert: Briefe untereinander, nach Endenich, an Freunde, des Weiteren Tagebuchvermerke, Zeitungsschnipsel, öffentliche Bekundungen. Es ist ein ständiges Ineins von kühler Beobachtung hier und flammend-traurigem Briefton dort. Clara litt sehr (»tiefes Weh«, 12.

September 1855) und hätte ihren Robert gern häufig besucht, doch die Ärzte untersagten es ihr, weil es Robert nur geschadet hätte eine aus damaliger psychiatrischer Sicht plausible Haltung.

Robert selber vegetierte vor sich hin, wie die Akten beweisen. Er war in einen anderen Zustand übergegangen, auffällige Verhaltensmerkmale traten jetzt ungeschminkt hervor. Eintrag vom 19.April 1854: »In der Nacht unruhig - sprach bis Mitternacht laut vor sich hin, von der Veneris, sei unglücklich, werde wahnsinnig - stand später auf und begehrte zur Thür hinaus, ward heftig gegen den Wärter.«

Oder vom 28. April 1855: »Bezieht die einfältigsten Dinge auf Verfolgung des bösen Dämons. Spricht viel bei den Besuchen, aber kaum verständlich. Außert bei der Visite die ganz unbegründete Ansicht, seine Uhr gehe zu schnell.« Letzter Eintrag vor dem Tod: »Heute morgen freiwillig einige Löffelchen Gelée. Urinierte ins Bett. Abends starkes Schleimrasseln. Der Puls 120. Athmungen 44.« Am Tag danach hatte ihn die von ihm selber erwähnte Veneris, die Geschlechtskrankheit, hingerafft.

Wer die Gemütslage der Robert-Schumann-Gesellschaft kennt, in deren Schriftenreihe Schumann-Forschungen der Band erschienen ist, der weiß, dass ihr die Syphilis seit je das verhasste Weib ist, welches sich verbotenerweise im Bett von Schumanns Leben und Nachleben eingenistet hat. Von dort ist sie schier nicht mehr zu vertreiben, seit der Medizinhistoriker Franz Hermann Franken 1984 die bereits von Richarz eingereichte Diagnose »progressive Paralyse« (Hirnerweichung als ein finales Stadium einer Spätsyphilis) bestätigte. Franken stützte sich auf ein ganzes Ensemble fortschreitend ineinander greifender Symptome.

Schumann selber hatte sich 1831 für »syphilitisch« erklärt - er hatte damals häufig Umgang mit einer gewissen Christel, die als seine Verkörperung sexueller Tröstung und moralischer Verderbnis fortan den Namen »Charitas« trug. Schumann kannte die Quelle seiner Infektion also und benannte sie stets in einem Ausdruck von Schauder, Scham und Schuldgefühl.
Diese Gesinnung übertrug sich offenbar auf seine Verehrer - sie nutzen jetzt die Veröffentlichung der Krankenakten, um in einer neuen »medizinhistorischen Stellungnahme« die Syphilis als Auslöser der tödlichen Erkrankung Schumanns aus der Diskussion zu drängen. Dieses Manöver ist bereits auf dem Verfahrensweg gescheitert. Statt mehrere unabhängige Expertenmeinungen aus den zuständigen neurologischen, venerologischen, pathologischen Disziplinen einzuholen, wurde einzig der Psychiater Uwe Henrik Peters zu einem Zweitgutachten gebeten, das die Syphilis vom Tisch zu fegen suchte.

Freilich sind Peters bei seinem Reinigungsvorhaben medizinische Fehler und Ungenauigkeiten unterlaufen. Zwei international ausgewiesene Syphilis-Experten, Hans-Jochen Hagedorn (Herford) und Hilmar Prange (Göttingen), haben die in dem Band vorgelegten Befunde und Stellungnahmen studiert - beide halten bei aller Abneigung gegen Bewertungen, die aufgrund der historischen Entfernung nur spekulativ sein können, die Syphilis-Diagnose für einleuchtend. Der Infektionsexperte Hagedorn widerlegt beispielsweise die fast schon unverzeihlich naive Vermutung Peters, dass ein Syphilitiker Schumann wohl kaum acht gesunde Kinder gezeugt haben könne und seine Frau gewiss angesteckt haben müsse. Hagedorn: »Sofern sich Schumann 1831 mit Syphilis infiziert hat, war er zum Zeitpunkt seiner Eheschließung im Jahr 1840 mit Sicherheit in der Phase der Spätlatenz und somit nicht mehr infektiös. Eine spätlatente Syphilis hat außerdem keinen Einfluss auf die Zeugungsfähigkeit des Mannes.«

Die abnormen Pupillenreaktionen, die Schumann aufwies, sind laut Prange symptomatisch für das vielfältige neurosyphilitische Krankheitsbild. Der Neurologe vermisst zudem einen Hinweis von Peters auf die Geschmacks- und Geruchsstörungen Schumanns, der glaubte, er müsse bei den Speisen, die ihm in Endenich angeboten wurden, »Scheiße essen«.Prange: »Bei der Neurosyphilis treten auch organische Schädigungen von Strukturen des limbischen Systems, in dem Geruchs- und Geschmackssinn verortet sind, gehäuft auf.«
Hagedorn glaubt zudem, dass Schumann sich seine Infektion im Jahr 1831 nicht selber attestiert hat: »Sie wurde ihm wahrscheinlich durch Ärzte mitgeteilt, die das Krankheitsbild kannten.«
Pranges Fazit: Das im Obduktionsbericht beschriebene Bild einer Hirnatrophie lasse mit dem Fund »sulziger Massen« an der Basis des Gehirns und den nachgewiesenen chronisch entzündlichen Veränderungen der Hirnhäute einen eindeutigen Rückschluss auf das übliche Verlaufsspektrum einer Neurosyphilis im Sinn einer progressiven Paralyse zu.Schumann besaß übrigens schon vor 1850 zahlreiche Frühsymptome der im Nervensystem sich ausbreitenden Erkrankung, die medizinisch als »neurasthenisches Vorstadium« einer Neurosyphilis bekannt sind.

Wie wichtig muss der Welt Schumanns wahre Krankheit sein? Hoffentlich geben diese Krankenakten im Festjahr 2006 die Anregung zu einer neuerlichen, diesmal vorurteilsfreien Generaldebatte, der es an multipler Fachkunde nicht fehlt. Auch die Musikwissenschaft ist aufgerufen, ohne die verzerrende Prämisse von Schutzwürdigkeit und treu sorgender Zuneigung über einen Zusammenhang zwischen Erkrankung und gewandelter musikalischer Qualität in Schumanns späten Jahren nachzudenken. Es müsste der Blick gelenkt werden auf die spannungslosen, aber klassisch funktionierenden Verläufe im späten Requiem, auf die zum Teil sehr simplen Akkordbildungen in den (wegen ihres geheimnisvollen Titels gern überschätzten) Gesängen der Frühe, auf die im Vergleich zum Frühwerk fast fortschrittsfeindliche Textur der Geistervariationen. Vielleicht erweist sich, dass sich Schumanns kompositorisches Spätwerk in seiner auffällig diskreten, privatisierenden, still beschaulichen, schier zwanghaft um Ordnung ringenden Gestalt nicht schlecht unter den Oberbegriff einer neuen, diesmal pathologisch bedingten Schönheit fassen lässt.

Robert Schumann in Endenich (18541856): Krankenakten, Briefzeugnisse und zeitgenössische Berichte.
Herausgegeben von Bernhard R.Appel - Verlag Schott, Mainz 2006 - 607 S., 34,95

Weitere Empfehlungen:

Martin Demmler: Robert Schumann »Ich hab im Traum geweinet«
Biografie - Reclam, Leipzig 2006 - 283 S., 19,90
Demmler bietet eine überaus sorgfältige, sehr gut lesbare Biografie mit klugen, knappen Werkbeschreibungen.Den Paradigmenwechsel Schumanns von jugendlicher Feuerköpfigkeit zu antiromantischer Bürgerlichkeit beschreibt er vorzüglich.Leider ist er bei den Schilderungen rund um den Eheprozess mit Friedrich Wieck nicht auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand.


Theo R.Payk: Robert Schumann
Lebenslust und Leidenszeit - Verlag Bouvier, Bonn 2006 - 269 S., 22,

Payk, Psychiater in Bochum, legt eine knappe, aber zuverlässige Lebensbeschreibung Schumanns vor, die den medizinisch relevanten Verläufen besondere Aufmerksamkeit schenkt. Die Syphilis-These ist für ihn unstrittig.Er verficht sie angemessen, ohne Triumphierlust.


Hans Joachim Köhler: Robert und Clara Schumann. Ein Lebensbogen
Verlag Kamprad, Altenburg 2006 - 333 S., 39,80

Dies ist ein ziemlich verschroben und altbacken geschriebenes Buch, das auf heftiges Spekulationsgebrumm nicht verzichtet - die Sympathie des Lesers für manche originelle These weicht dem Ärgernis.Bei den Auslassungen zu Schumanns Krankheitssymptomen stört die medizinische Unbedarftheit.Schön illustriert.


Clara Schumann: Blumenbuch für Robert 18541856
Hrsg. v.Gerd Nauhaus und Ingrid Bodsch - Verlag Stroemfeld, Frankfurt a.M. 2006 - 233 S., 28,

Die hübscheste, anrührendste und zugleich prachtvollste Neuerscheinung. Clara als Blumensammlerin, die 1854 eine Art Poesiealbum für den bereits in Endenich weilenden Gatten anlegte mit 52 Pflänzchen, liebevoll gesammelt, gepresst, eingeheftet und beschriftet.