Das Tondokument als Denkmal

Den 50. Todestag von Wilhelm Furtwängler (30. November 2004) nimmt Hans-Joachim Hinrichsen in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG vom 27. November 2004 zum Anlass einer ausführlichen Betrachtung der Aufnahme der Vierten Sinfonie von Robert Schumann durch Wilhelm Furtwängler im Jahre 1953, nur 1 Jahr vor Furtwänglers Tod:


Das Tondokument als Denkmal
Wilhelm Furtwängler interpretiert Robert Schumann

Die Aufnahme der Vierten Sinfonie von Robert Schumann, die Wilhelm Furtwängler 1953 realisiert hat, lässt erkennen, wie planvoll und systematisch der Dirigent seine Interpretationen gebaut hat. Zudem zeigt das Beispiel, wie die Erforschung der musikalischen Interpretation die Musikgeschichtschreibung zu bereichern vermag.

Von Hans-Joachim Hinrichsen


Dass das klingende Vermächtnis Wilhelm Furtwänglers - dessen Todestag sich am 30. November 2004 zum fünfzigsten Male jährt - so umfangreich auf Tonträgern dokumentiert ist, erscheint auf den ersten Blick selbstverständlich; schliesslich verläuft die Kurve seines Lebens fast parallel zur steilen Entwicklungsgeschichte der technischen Klangreproduktion. In Wirklichkeit jedoch hat der Dirigent überaus lange gebraucht, bis er sich mit der von ihm verächtlich als «Klang-Konserve» abgetanen Tonaufzeichnung überhaupt zu arrangieren bereit war. Zu Live-Übertragungen seiner Konzerte durch den Berliner Rundfunk konnte der über Fünfzigjährige erstmals 1937 überredet werden, und von der Technik- und Medienbegeisterung etwa eines Herbert von Karajan blieb sein Verhältnis zur technischen Reproduktion erklingender Musik zeitlebens um Lichtjahre entfernt.
Furtwängler hat zwar stets das unwiederholbare und jeweils einzigartige Konzerterlebnis privilegiert und sogar behauptet, für ihn sei die «Improvisation . . . in Wahrheit die Grundform alles wirklichen Musizierens». Dennoch hat der notorische Verächter der Klangkonserve in seinen späten Jahren zunehmend Schallplatten eingespielt, die planvoll auf die Dokumentation eines Lebenswerks zu zielen scheinen. An sie wohl zuerst - an den legendären Londoner «Tristan» etwa oder an die Vierte Sinfonie von Robert Schumann - sollte man sich denn auch halten, wenn man als Nachgeborener die Interpretationskunst Wilhelm Furtwänglers zu beschreiben versucht.


TEXTTREU ODER WERKGERECHT?
Furtwänglers Schallplatteneinspielung von Schumanns Vierter Sinfonie (d-Moll, op. 120) entstand fast am Ende seiner Laufbahn, am 14. Mai 1953 in der Berlin-Dahlemer Jesus-Christus-Kirche. Für ihre Analyse gibt es eine denkbar günstige Voraussetzung: Das gesamte Aufführungsmaterial, also die Partitur und die Orchesterstimmen, befindet sich heute leicht zugänglich im Furtwängler-Nachlass der Zentralbibliothek Zürich. Nach Ausweis der über das Material verstreuten Eintragungen der Orchestermusiker (sie reichen vom Februar 1921 bis zum Sommer 1953) scheinen die meisten dieser Stimmen bis hin zur letzten Aufführung der Sinfonie unter Furtwängler auch tatsächlich in Gebrauch gewesen zu sein. Ein Vergleich dieser Stimmen mit der überaus reich bezeichneten Partitur erweist diese ausserdem als tatsächliche Grundlage der aufgezeichneten Interpretationsversion.
Furtwänglers Einrichtung steht einerseits in der Tradition eines «retuschierenden» Umgangs mit Schumanns (angeblich schwerfälligem) Orchestersatz, den man schon in den Dirigierpartituren Hans von Bülows und Gustav Mahlers findet. Aber seine Retuschierungspraxis ist nicht als Nachhilfeunterricht in Instrumentation gemeint, sondern hat auf raffinierte Weise Methode: Die Ausdünnung des Orchestersatzes durch Streichung von Verdopplungsstimmen und durch Zurücknahme der Dynamik (vgl. die Abbildung auf dieser Seite) erfolgt systematisch nur beim jeweils ersten Auftreten einer thematischen Gestalt. Die Wiederkehr an Parallelstellen und Reprisen hingegen erklingt dann in ihrer originalen Schumannschen Massivität. Solche vorsichtigen Klangretuschen - über die sich das bloss hörende Ohr wohl kaum ganz bewusst Rechenschaft ablegen wird - zielen auf den subtil inszenierten Effekt einer die Einzelsätze durchziehenden und zugleich das gesamte Werk übergreifenden kontinuierlichen Steigerung. Nicht texttreu, sondern werkgerecht soll hier offenbar verfahren werden. Man ist damit gleichsam dem technischen Betriebsgeheimnis dieser diskussionswürdigen Schumann-Interpretation auf der Spur.

Vor diesem Hintergrund nämlich lässt sich ein weiterer hervorstechender Zug der Schumann- Aufnahme von 1953 verständlich machen: ihre enorme (wie sich bei genauer Analyse aber zeigt: absolut systematische) agogische Flexibilität. Besonders auffällig ist, dass die für die agogische Differenzierung typische Temporeduktion der Seitenthemen in beiden Ecksätzen nur durch die vorgängige Beschleunigung als solche wirkt; im Verhältnis zum jeweiligen Satzbeginn ist sie in Wirklichkeit gar nicht existent. Im Kopfsatz kehrt das Seitenthema-Tempo der Exposition, nämlich Viertel = 72, nach allmählicher Beschleunigung der Fortsetzung, erst in der Durchführung wieder. Das in ihr neu exponierte lyrisch-überschwängliche Thema befindet sich auf exakt derselben Tempostufe und fungiert damit, seinem formalen Ort zum Trotz, in Furtwänglers verblüffend plausibler Deutung als das eigentliche kantable Seitenthema des Satzes. Im dritten Teil der Durchführung dagegen wird es dann in die hier erst beginnende kontinuierliche Satzbeschleunigung einbezogen und erreicht das Tempo Viertel = 108. Später dann wird sich zeigen, dass dies genau das Tempo des Seitenthemas im Finale ist, das also gleichsam an diese am Kopfsatz-Ende erreichte Tempostufe anknüpft (um sie dann seinerseits noch weiter zu steigern).

Furtwänglers Systematik ist atemberaubend und kann schlechterdings weder ein Zufall noch das Resultat blosser Improvisation sein. Der ungewöhnlich langsame Beginn beider Ecksätze hat offenbar den Sinn, selbst die Rücknahme des Seitensatztempos nicht das Tempo des Satzanfangs unterschreiten zu lassen, also den Gesamteindruck einer übergeordneten Satzbeschleunigung nicht zu durchkreuzen. Dieser satzinterne Beschleunigungseffekt wird nun aus jedem der beiden Ecksätze zusätzlich auf die Sinfonie als ganze projiziert. Dazu gehört, dass Furtwängler in den beiden ersten Sätzen alle Wiederholungsvorschriften exakt befolgt, dass hingegen im Finale - so wie bereits im zweiten Teil des Trios im Scherzo - die Expositionswiederholung entfällt. Zum Eindruck der werkübergreifenden Dynamisierung trägt in Furtwänglers Interpretation zudem der Umstand bei, dass zwar der Finalsatz langsamer beginnt, als der Kopfsatz endet, dass aber das Finale-Seitenthema in seiner Temporeduktion exakt der schnellsten Erscheinungsform des neuen Seitenthemas im Kopfsatz (nämlich im Schlussteil der Durchführung) entspricht. Am Ende der Finale-Reprise hat das Tempo geringfügig zugenommen, um von dort aus schliesslich, wo diese von Schumann auch durch Taktwechsel und explizite Tempovorschriften auskomponiert ist, eine geradezu exponentielle Beschleunigung zu erfahren, die das Rezeptionsklischee vom Tempi verschleppenden Furtwängler in Dunst zergehen lässt.

Es ist wohl kaum zufällig, dass Furtwängler sich zur späten Dokumentation seiner Schumann- Interpretation überhaupt nur nach der Zusicherung der kontinuierlichen Aufzeichnungsmöglichkeit verstanden hat: «Sie können», so Furtwängler zum Tonmeister der Deutschen Grammophon-Gesellschaft, «die Vierte von Schumann von mir unter der einen Bedingung haben, dass Sie uns nicht mehr unterbrechen, weder bei den Sätzen noch zwischen den Sätzen.» Die stupende agogische Präzision aber, mit der dabei unter Furtwänglers Händen das Gesamtwerk durch Beschleunigungs- und Retardierungsanalogien eine Tempoarchitektur im eigentlichen Wortsinne erhält, bleibt der zwar am besten analysierbare und doch am schwersten erklärbare Bestandteil seiner phänomenalen Musizierbegabung.

SELTSAM VERFEHLT?
Robert Schumanns Sinfonik hat es in der Musikgeschichtsschreibung lange Zeit nicht aus dem Windschatten einer von Beethoven über Bruckner zu Brahms und Mahler reichenden Entwicklungslinie sinfonischer Monumentalität herausgeschafft - und schon gar nicht die unorthodox geformte Vierte, die, in Wirklichkeit ein Jugendwerk, vom Komponisten selbst anlässlich ihrer späten Überarbeitung, die sie in der Zählung zur «Vierten» werden liess, zunächst vorsichtig als «Symphonistische Phantasie» betitelt worden war. Eigentlich erst durch Furtwänglers wirkungsmächtiges Eingreifen in ihre Interpretationsgeschichte hat sich ihre Rezeption nachhaltig gewandelt.

Schumanns Vierte steht, gleichsam als Schluss- und Höhepunkt zugleich, am Ende der langen Karriere eines Dirigenten, als dessen eigentliche musikalische Fixsterne mit Recht die Sinfoniker Beethoven, Brahms und Bruckner gelten. Mit weit über 1000 nachgewiesenen Beethoven-Aufführungen Furtwänglers und immer noch über 500 der Werke von Brahms sind solche Präferenzen auch durchaus statistisch zu belegen. Diesen Zahlen stehen 190 dokumentierte Schumann- Dirigate gegenüber; unter ihnen ist fast genau die Hälfte der Vierten Sinfonie gewidmet. Den überproportional hohen Anteil in Furtwänglers Schumann-Repertoire gewinnt sie aber - bei kontinuierlichem Auftreten seit 1920 - erst allmählich, vor allem im letzten Jahrzehnt. Allein in den letzten drei Jahren seiner Tätigkeit setzte Furtwängler sie nicht weniger als elfmal auf das Programm seiner Saison- und Tourneekonzerte. Furtwänglers Schumann-Bild wächst, pointiert formuliert, mit den Jahren auf die immer stärker hervortretende Vierte Sinfonie zu, und die Auswahl gerade dieses Werks für eine späte Schallplattendokumentation ist daher kaum beliebig.

Ist schon seine Realisierung der Vierten selbst mit dem Begriff der Monumentalisierung gewiss nicht ganz falsch bezeichnet, so erst recht nicht die Programmpolitik, mit der Furtwängler sie planvoll in bestimmte Kontexte stellte: in eine Reihe etwa mit Beethovens Dritter, Fünfter, Siebter, Achter und Neunter, mit Schuberts C-Dur- Sinfonie, mit Bruckners Siebter, Achter und Neunter und mit den vier Sinfonien von Brahms. Vor allem gegen das Ende seiner Laufbahn begann dieser Programmtypus zu überwiegen, der offenkundig die Gipfelwerke der deutschen Sinfonik vereinigen sollte - besonders schlagend in dem letzten Konzert überhaupt, in dem Schumanns Vierte begegnete, bei den Luzerner Musikfestwochen von 1953.

Furtwänglers faszinierende späte Schumann- Aufnahme hat die Qualität eines apodiktischen Eingriffs in die Rezeptionsgeschichte. Eine repräsentative Schumann-Diskographie nannte sie 1982 genau deshalb «bedeutsam, aber fremd, in ihrer historischen Substanz begreifbar und doch seltsam verfehlt». Anders gesagt: So war Schumann vorher (und ist er auch später) nie gespielt worden. Das retrospektive Urteil über die Interpretationsleistung ist indessen mit der Diagnose des «Verfehlten» - schon allein wegen der Abgründigkeit der Frage nach ihren Kriterien - riskanter als die Interpretation selbst.

INTERPRETATION ALS KUNSTWERK?
Natürlich ist es eine Binsenwahrheit, dass keine Interpretation ohne das ihr gegebene Werk existieren kann - aber eben auch kein Werk ohne die ihm gewidmete Interpretation. Dennoch scheint sich ein Einwand aufzudrängen. Ist solcher Aufwand an historischer Recherche, ideengeschichtlicher Argumentation und objektbezogener Analyse, nur um eine klingende Werkdeutung zu verstehen, nicht masslos übertrieben? Oder nicht sogar eine eklatante Unverhältnismässigkeit der Mittel, die man vielleicht der Komposition selbst, aber nicht doch ihrer ephemeren klingenden Realisierung widmen sollte? Wer so fragt, stösst tatsächlich auf das wirkliche Problem: Der ernsthaft analytische Zugriff auf das Phänomen der musikalischen Interpretation jenseits des Tagesgeschäfts aktueller Musikkritik erweist sich unversehens als ausserordentlich komplex. Es wäre also nur konsequent, wenn man - wie bei den Werken selbst ja unbestritten - auch grosser Interpretationskunst ein Eigenrecht, ein Nachleben und eine Wirkungsgeschichte zugestände. Niemand wird heute mehr ein musikalisches Werk ohne seinen Entstehungskontext und seinen Wirkungsradius verstehen wollen. Doch was «dem Werk» gegenüber recht ist, sollte auch «der Interpretation» gegenüber billig sein; sie ist kein autonomes Gebilde im luftleeren Raum und geht daher auch nicht einfach auf in dem, was die Schallplatte von ihr zu fixieren vermochte.

Robert Schumann: Sinfonien Nr. 2 und 4. Berliner Philharmoniker, Leitung: Wilhelm Furtwängler. Deutsche Grammophon 457722-2 (Aufnahme 1953, mono, 2 CD).