Der verleumdete Engel

Heinz W. Koch (Badische Zeitung, 19.02.2008)

Neuerfindung der Oper? Harnoncourt und Kusej mit Schumanns "Genoveva" in Zürich

Also sprach Nikolaus Harnoncourt: Robert Schumanns 1850 in Leipzig urgespielte "Genoveva" bedeute nichts anderes als die "Neuerfindung der Oper" . Ein starkes Wort für den vom Komponisten größtenteils selbst angerichteten Mix aus Tiecks und Hebbels Vorlagen. Jetzt endlich fand sich auch ein Haus, an dem der unterdessen 78-jährige Dirigent seine These erhärten konnte. Es ist die aufs Durchforsten der Raritätenecke fast schon abonnierte Zürcher Oper, und Martin Kusej ist der Szeniker, den der Musiker immer schon herbeisehnte. "Neuerfindung der Oper" ? Vielleicht. Sicher scheint jedoch, dass wir’s — trotz öfter schwächelndem Orchester — von der schmerzlich ausgereizten Eröffnungsdissonanz an mit einem Schumann-Nonplusultra zu tun haben.

Mag Harnoncourt auch hier gelegentlich mit erhobenem Zeigefinger dirigieren — schwer vorstellbar, dass jemand die Spezifika dieser "Genoveva" überzeugender, dringlicher hervorkehrt als er: diese Mischung aus sinfonischem Überbau und Singspiel, aus Bach’scher Choralkunst und romantischem Opernschauer — mit Vokalstrecken darin, in denen Schumann sich als Liedmeister artikuliert. Im Grunde wird ihm alles zum Arioso, zum gerade auch orchestralen Strom ohne Ende.

Dass das keineswegs — wie sonst schon — ohne Punkt und Komma dargeboten werden muss, auch das beweist dieses Interpretationsmuster. Sicher befeuert Harnoncourt Schumanns unaufhaltsamen Sog, modelliert er aufs Sorgsamste die Überleitungen, aber er verschluckt eben auch das Atemholen der Musik nicht. Im Gegenteil, er schärft die Ingredienzien und meidet vor allem dank des auch in der Vertikalen absolut einsehbaren Klangbilds eine Generalgefahr bei Schumann: den unwegsamen Kompaktklang — vulgo: den Klangbrei. Und wenn das Werk in der grölenden Sauferei im Schlosshof zu fast Berlioz’scher Drastik vorstößt, treibt auch Harnoncourt die Farben ins Grelle. Dabei ist es immer, als dringe die Musik ins Innere der Gestalten vor, als belausche sie ihre Psychen.

Genoveva von Brabant ist ein Engel. Dieweil ihr Gatte, der Pfalzgraf Siegfried, gegen die Mauren in den Krieg zieht, führt sie daheim einen lupenreinen Lebenswandel. Ihr in sie vernarrter Beschützer Golo kommt partout nicht ans lang ersehnte Ziel. Abgefeimte Intrige: Er bugsiert den ahnungslosen Haushofmeister in ihr Schlafgemach. Entdeckung, Kerker, Beinahe-Hinrichtung, indes auch Reue der Verleumder, Happy End in letzter Minute, jede Menge "Heil!" -Rufe.
Die unheile Welt der

Biedermeier-Gesellschaft


Die Inszenierung hält es mit den musikalischen Erkenntnissen: Sie widmet sich ganz dem Inneren der Gestalten. Kusej vollzieht nach, was Harnoncourt immer schon predigte: Nichts ist hier real, nichts "Wirklichkeit" . Rolf Glittenberg richtete ihm dafür eine Bühne auf der Bühne ein: ein blendend weißer Kasten, ein paar — mehr und mehr blutverschmierte, verschmutzte, "befleckte" — Quadratmeter, in denen die Figuren regelrecht ausgestellt sind. Verkrampfte darin, Wankende, zu Boden Gedrückte, an den Rand Gedrängte, am Ende Verwüstete, in eine hochkünstliche, manieristisch-expressive Choreographie der Haltungen, Gebärden und verborgenen Wünsche eingebunden. Sehr gewagt das. Aber es verfängt, in seiner Dichte, seiner kompromisslosen Ernsthaftigkeit, seiner Suche — wir folgen nun dem Zürcher Germanisten Peter von Matt — nach dem Abgrund "hinter den naiven Umrissen" . "Du bist ein deutsches Weib, so klage nicht" : Der Pfalzgraf, Repräsentant der starren Ordnung, vertritt die 1847/48 revolutionär erschütterte alte Welt. Kein Zweifel, dass der Literat in Schumann den oft belachten reaktionären Phrasenmüll brandmarkte.

Nur selten, dass die Außenwelt in die Sphäre der vier Zentralgestalten eindringt: die aufrührerisch-anonyme Chormasse mit geschwärzten Gesichtern, die unumgängliche Staffage der brodelnden Gerüchteküche, der Schergen. Und für den Fortgang wichtige Briefe wollen — Irrealität hin wie her — schließlich überbracht werden. Kusej fängt die unheile Welt der geknebelten Biedermeier-Gesellschaft (Kostüme: Heidi Hackl) ein — und ihre Zerrissenen, Gespaltenen, wie Schumann selber einer war. Der heimliche, eigentliche Protagonist?

Die stark geforderten Sängerdarsteller lassen sich ohne Rückhalt auf das gewagte Konzept ein. Voran Juliane Banse, blühender Sopran mit erfülltesten Momenten, in der Titelpartie; Shawn Mathey, offener, differenzierter Tenorlyriker, als Golo; Martin Gantner, ganz besonders makellos formulierender tenoraler Bariton, als Siegfried; Cornelia Kallisch, jetzt doch über ihren Zenith hinaus, als frustrierte Zauberhexe Margaretha. Demonstrativer Applaus, einiges Buh.
Heinz W. Koch